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Sehr klassizistisch, wenig provokant

■ Auf der Suche nach der »deutschen Einheit« an den Berliner Universitäten

Berlin. Im Jahre zwei nach dem Mauerfall und ein gutes halbes Jahr nach Herstellung der deutschen Einheit hat sich selbige auch bis zu den Berliner Universitäten herumgesprochen: Während man im letzten Semester auf der Suche nach der Einheit in den Geistes- und Sozialwissenschaften nur auf ein höchst spärliches Angebot stieß, haben Freie und Humboldt-Universität im diese Woche beginnenden Sommersemester schon etwas mehr zum Thema zu bieten. Wer an einem wissenschaftlichen Zugang zur deutschen Einheit interessiert ist, muß zwar immer noch recht lange blättern, bis er fündig wird - aber schließlich soll bei der Rezeption des gewichtigen Problems nichts überstürzt werden. In höchstens 20 Jahren wissen wir es dann ganz genau.

Beginnen wir mit dem Fach, das sich qua Definition am ehesten um die Einheit aller Deutschen kümmern müßte, der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU. Jede Menge Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, gemeint ist damit jedoch meist die alte und deren parlamentarisches System, das die neuen Länder jetzt im Schnellverfahren verpaßt bekommen. Vielleicht kommt man ja bei den »Entwicklungstendenzen im föderalistischen System der Bundesrepublik« irgenwann bis zur Gegenwart. Immerhin, geboten werden die »äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung«, »Politische Philosophie in der deutschen Ost-West-Auseinandersetzung« und sogar sozialpsychologische Aspekte der Einheit - beides jedoch nur für Hauptstudiumsstudenten. Auch der Einigungsvertrag und seine Folgen werden unter die Lupe genommen, bei den Politologen wie bei den benachbarten FU-Juristen. Wer dagegen hofft, bei den Publizisten etwas über die gesamtdeutsche Medienlandschaft zu erfahren, sucht vergebens. Geschenkt.

Dünn fällt das Angebot auch in der Soziologie aus: Nur ein Seminar beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen der Vereinigung, ein weiteres mit den Problemen beim Zusammenwachsen des Schulwesens in Berlin. Wer glaubt, in der Germanistik etwas über den aktuellen deutsch-deutschen Schriftstellerstreit zu erfahren, sieht sich enttäuscht; Goethes Wahlverwandtschaften und Schillers ästhetische Schriften gehören wie der Naturalismus oder die klassiche Moderne der zwanziger Jahre zum unvermeidlichen, weil bewährten Angebot. Immerhin, ein Seminar geht der Frage nach, was aus den Träumen von DDR-Schriftstellern im Westen wurde - allerdings nur bis 1989.

Wenden wir uns nach Osten, in einen der ehemaligen Horte deutscher Wissenschaft. Ganz im Sinne des Namensgebers Humboldt wird dort immer noch ein Studium Generale angeboten - allerdings ohne die deutsche Vereinigung. Dafür lernen die Ostler endlich etwas über das christliche Menschenbild aus katholischer Sicht.

In den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wird vor allem eines deutlich: die völlige Umkrempelung des Lehrbetriebes. Die deutsche Einheit geistert durch Grund- und Hauptstudiumsangebote, in denen Grundlagen westlicher Ökonomie, des Rechts- und politischen Systems, der Betriebswirtschaft etc. vermittelt werden sollen. Marxismus-Leninismus ist fast ebenso out wie an der FU, bei den Philosophen kann man aber immer noch die Grundzüge Marxschen Denkens kennenlernen. Insbesondere die Juristen haben alle Hände voll damit zu tun, ihren Studenten den Einigungsvertrag und seine Folgen, Zivilrecht, Strafrecht, Arbeitsrecht bundesrepublikanischer Prägung beizubringen. Auch bei den Sozialwissenschaften geht es erst einmal um die Grundlagen: parlamentarisches System BRD, Recht und öffentliche Verwaltung in Deutschland, Überblicksvorlesungen zur deutschen Geschichte allerorten... Ein paar Bonbons sind dennoch dabei: etwa eine Analyse der Diskussion in den Bürgerbewegungen und ihre Umwandlung in Parteien oder das Konfliktfeld Hausbesetzer mit der Frage »Kurfürstendamm oder Mainzer Straße«. kd

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