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Kurden: „Die Lage ist total chaotisch“

■ Immer schärfere Kritik an der Weigerung der Türkei, die kurdischen Flüchtlinge von den verschneiten Bergen ins Tal zu lassen/ Armee will Flüchtlinge ausweisen/ Unbeschreibliche Not an der iranischen Grenze/ Geplänkel über Schutzzonen geht weiter

Uludere/Teheran/New York — (dpa/afp) — „Die Türken wollen, daß wir hier oben sterben. Dann wären sie uns los.“ Mit diesen Worten verleiht ein kurdischer Flüchtling aus dem nordirakischen Dohuk einer Befürchtung der 500.000 Kurden Ausdruck, die es zwar geschafft haben, auf türkischen Boden zu flüchten, denen aber jetzt von der türkischen Armee der Abstieg von den Bergen in die Ebene verwehrt wird. Reporter beobachten täglich, wie türkische Soldaten kurdische Flüchtlinge mit Warnschüssen und Stockhieben daran hindern, den Streifen türkischen Bodens entlang der irakischen Grenze zu verlassen, den ihnen die Regierung in Ankara zugesteht. Stattdessen werden in mindestens einem Lager die Kurden von türkischen Soldaten auf Mitgliedschaft in der verbotenen PKK untersucht.

Inzwischen wird die Kritik internationaler Hilfsorganisationen an der türkischen Politik immer lauter. Oben in den Bergen seien viele zum Tod durch Verhungern oder Krankheit verurteilt, heißt es. Unter anderem haben Bundesaußenminister Genscher und der französische Staatssekretär für humanitäre Angelegenheiten Kouchner die Türkei gestern dringend gebeten, die Flüchtlinge in die Täler absteigen zu lassen. Es gehe, so Kouchner, „um ihr Überleben“. Türkische Armeevertreter erklärten dagegen, die beste Lösung sei die Ausweisung der Kurden. Die Flüchtlinge seien „undiszpliniert“.

Auch im irakisch-iranischen Grenzgebiet droht jetzt nach Angaben des Generalsekretärs des Dänischen Rotes Kreuzes, Eigil Petersen, ein Massensterben unter Flüchtlingen.

Petersen, der soeben aus dem Gebiet zurückkam: „60 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder. Sie gehen barfuß auf Schnee. Sie schreien vor Hunger. Sie sterben vor Hunger. Ein 15 Kilometer breiter Gürtel im Irak und 15 Kilometer im Iran ist einfach schwarz von Menschenmassen. Die Lage ist total chaotisch, weil die Flüchtlinge in ihrer Verzweiflung Nothilfen bei jeder Gelegenheit von den Lastwagen reißen.“ Er zitierte Schätzungen, wonach bisher 700.000 schiitische Flüchtlinge in die Bakhtaran-Provinz gekommen sind, während sich im Norden etwa 300.000 kurdische Flüchtlinge aus dem Irak in der Gegend um die Stadt Orumiyeh aufhielten. Weiter 500.000 Menschen seien derzeit noch in Richtung Iran unterwegs.

Die internationale Gemeinschaft konnte sich unterdessen immer noch nicht über einen wirksamen Schutz für die Flüchtlinge einigen. UNO- Generalsekretär Javier Perez de Cuellar vertrat gestern die Auffassung, daß sogenannte „Sicherheitszonen“ im Nordirak nur mit Zustimmung Bagdads errichtet werden können. Die USA warnten den Irak erneut, die Hilfsaktionen für Bürgerkriegsflüchtlinge nicht zu behindern, wo immer diese auch im Land durchgeführt werden. Die Lage erfordere es, daß die UNO-Mitarbeiter auch im Landesinneren arbeiten.

Der Vorschlag, Sicherheitszonen im Nordirak zu errichten, wurde am Donnerstag auch von US-Präsident George Bush und der EG erörtert. In Washington betonte der belgische EG-Ratsvorsitzende Jacques Santer, man wolle diesen Zonen keinen rechtlichen Status geben. Es gehe nur um humanitäre Hilfe. „Niemand will ein neues Land innerhalb des Iraks errichten“, sagte Santer. Von einem bloßen „Streit um Worte“ sprach unterdessen US-Präsidentensprecher Fitzwater. Schließlich seien sich doch alle über die Notwendigkeit einig, Schutzzonen für die Kurden zu schaffen.

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