: „Erst wollen wir die Kurilen zurück“
■ Mit Michael Gorbatschow trifft heute der erste Moskauer Regierungschef in Japan ein/ Vor den erhofften japanischen Krediten und Investitionen steht jedoch immer noch der Streit um vier kleine Inseln/ Kampagne der „Liga der Insel-Vertriebenen“
Eine kleine Landepiste in der Nähe eines Fischerhafens an der östlichen Spitze der japanischen Insel Hokkaido ist an diesem Dienstag, dem 8.April, Ausgangspunkt einer wundersamen Exkursion eines bunt zusammengewürfelten Trupps internationaler Journalisten. Unter der Ägide des Tokioter Außenministeriums soll es — ein aufsehenerregendes Ereignis für die lokale Presse — auf Entdeckungsreise gehen in ein der Welt bis heute weitgehend unbekanntes Fischerstädtchen mit Namen Nemuro.
Ganz Hokkaido verfolgt über Funk und Fernsehen die Ankunft der Exoten in Nemuro. Sie werden beäugt, bestaunt, belächelt — die örtlichen Medien feiern ihre Gäste. Mit gutem Grund. Schließlich kommt mit den Vertretern der in Japan mancherorts gefürchteten Auslandspresse der fehlende Rest politischer Anerkennung nach Hokkaido, der jener unheimlichen Allianz aus einer Handvoll starrköpfiger Fischersleute in Nemuro und den Profi-Revanchisten im Tokioter Außenministerium gerade noch fehlte. „Gebt uns die nördlichen Gebiete zurück!“, lautet deren Parole, die im Osten Hokkaidos an jeder Mauerecke klebt. Gemeint sind jene vier winzigen Fischerinseln am südlichen Ende der Kurilenkette, die Josef Stalin im August 1945 nach dem Sieg über die Achsenmächte annektierte; es sind ihre Schatten, die sich hier an der Küste vor Nemuro am Horizont zeigen.
Die Kurilen gleichen einer geographischen Schicksalsbrücke. Denn vor der Ostspitze Hokkaidos treffen zwei Großmächte aufeinander, die — solange sie voneinander wissen — nie Freundschaftliches miteinander im Sinn gehabt haben. Schon die ersten Schiffe, die Katharina die Große vor über zweihundert Jahren auf die Fahrt ins Japanische Meer schickte, kamen in militärischer Mission. Danach war es um die Jahrhundertwende der russisch-japanische Krieg, der tiefe Spuren hinterließ. Seither hat es zwischen Moskau und Tokio keine glaubhafte Annäherung mehr gegeben. Erst in dieser Woche soll das alles besser werden.
Wer anders als Michail Gorbatschow könnte es wagen, als erster Moskauer Regierungschef der Geschichte den Fuß auf feindliches Territorium zu setzen? Noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, bricht Gorbatschow auf, um in gewohnt weltmännischer Manier historisch-geographische Schranken zu durchbrechen. Und doch steht zu befürchten, daß sich die schmale Meeresenge vor Nemuro, wo heute nur dreieinhalb Kilometer Pazifikgewässer Japan und die Sowjetunion trennen, als unüberwindlicher erweist als der Eiserne Vorhang in Europa.
„Der Krieg zwischen Japan und der Sowjetunion“, schmettert der ehemalige Fischersmann und Kurilen-Vertriebene Mitsuo Yanami in Nemuro, „ist so lange nicht vorbei, wie kein Friedensvertrag unterzeichnet ist. Nur die Rückgabe aller vier Inseln kann den Knochen entfernen, der uns im Halse steckt.“ Der so daherredet, ist freilich kein braver Provinzpensionär. Als Topmanager der „Liga der Inselvertriebenen“, der von der Tokioter Regierungspartei finanzierten Kurilen-Lobby, leitet Mitsuo Yanami eine in den japanischen Medien allgegenwärtige PR- Kampagne, die die Nation seit Jahrzehnten zu Tränen rührt. Denn Yanami und die ihm treu ergebenen Fischersleute von Nemuro erzählen Nippons berühmteste Kriegsgeschichte. „Als die Soldaten im August 1945 auf unserer Insel landeten“, erinnert sich Mitsuo Takaiwa, einer der Vorzeige-Vertriebenen, „dachten wir zunächst, sie wären Amerikaner. Dann aber hörten wir sie immer öfter den Namen Stalin aussprechen — da erst begriffen wir. Von da an lebten wir von Angesicht zu Angesicht mit ihren Gewehrläufen. Sie besetzten unsere Schule und sie kamen zu uns ins Haus, ohne die Schuhe auszuziehen. Schließlich gar mußten wir die Insel verlassen. Durch unglaubliches Leid sind wir gegangen.“
Gleichwohl spottet es der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, daß die Bürger im demokratischen Japan der Gegenwart mit der Fischerstory aus Nemuro besser vertraut sind, als mit dem japanischen Völkermord in Nanking. Nippons Medien und Politiker empören sich nur zu gerne über das unhöfliche Benehmen sowjetischer Soldaten auf den Kurilen, die damals weder Frau noch Kind vergewaltigten. Aber sie schweigen von den kannibalischen Umtrieben japanischer Soldaten im Südpazifik. „Ich bin kein Politiker. Meine Kinder und ich wollen nur zurück an den Geburtsort unserer Familie“, klagt der Fischer Joji Ashizuki in Nemuro, dessen Großeltern um die Jahrhundertwende auf die Kurilen zogen. Doch niemand auf der Welt würde sich heute um das unglückliche Schicksal des Joji Ashizuki scheren, wenn es die Tokioter Politik-Manager nicht über die Jahre geschafft hätten, aus der Rührgeschichte von Nemuro eine weltpolitische Affäre zu konstruieren.
„Unsere dringende Aufgabe“, versicherte Nippons Regierungschef Toshiki Kaifu noch im Oktober 1990, „ist nicht, irgendwelche Zwischenschritte zu formulieren, wenn Präsident Gorbatschow Japan besucht, sondern ernsthafte Gespräche über die gründliche Verbesserung der Beziehungen beider Länder zu führen, wobei unsere Priorität der Rückgabe der vier Inseln gelten muß.“ Derart lautet der Tokioter Refrain auf das japanisch-sowjetische Verhältnis, jeweils den Umständen entsprechend, nun schon seit 35 Jahren; wirtschaftliche Kooperation und kultureller Austausch müssen solange zurückstehen, wie sich Moskau nicht den Territorialansprüchen Japans beugt. Aufschlußreich ist allerdings, wer Japan das Kurilenlied einst angedichtet hat. Als sich nämlich Japaner und Sowjets im Jahre 1955 erstmals in London zu Verhandlungen über einen Friedensvertrag zusammensetzten, war von einer Tokioter Rückgabeforderung über vier Kurileninseln keine Rede. Behördenintern hatte das japanische Außenministerium gar die Richtlinie ausgegeben, daß sich Japan mit der Rückgabe von zwei Inseln, Habomai und Shikotan, begnügen würde. Entsetzen aber kam in Tokio auf, als Nikita Chruschtschow schon ein Jahr später Einverständnis mit einem solchen Zwei-Insel-Deal signalisierte. Japans Regierende wähnten sich in dieser Zeit noch vollkommen den USA verpflichtet und befürchteten sofort Ärger mit Washington, falls man sich mit der Sowjetunion einige. Daher besann sich das Tokioter Außenministerium rasch auf die Idee, statt zwei nunmehr gleich vier Inseln zurückzufordern. Es waren also weder nationale noch historische Ansprüche, auf denen Japan seither beharrt, die bei der Entstehungsgeschichte der heutigen Kurilenfrage Pate standen, sondern verhandlungspolitische Opportunität. Dabei diente der so entstandene Territorialdisput, dessen militär-strategische Begründung unter Experten immer umstritten blieb, von Anfang an dem vorrangigen Zweck, jegliche Annäherung zwischen Tokio und Moskau zu blockieren. Auch die Fischer-Geschichten von Nemuro waren bis in die 60er Jahre landesweit noch unbekannt und erlangten erst später ihren Ruhm als Nationallegende.
Der spätestens mit Ende des Kalten Krieges auch militär-strategisch nutzlos gewordene Kurilen-Zankapfel entpuppt sich damit als scheinbar zeitloses, unüberwindbares Bollwerk von weltpolitischem Gewicht. Für den angeschlagenen Gorbatschow bietet sich im Fernen Osten vielleicht die letzte große Chance wirtschaflicher Erneuerung durch ausländische Hilfe. Anders als in der Zusammenarbeit mit Westeuropa, wo jedes einzelne Unternehmen vom Sinn einer Investition in der Sowjetunion überzeugt werden muß, kann Gorbatschow in Japan der Erfolg mit einem einzigen großen Wurf gelingen. Wenn nämlich Tokio eine positive Grundsatzentscheidung über die wirtschaftliche Kooperation mit Moskau erst einmal gefällt hat, dann gibt es kaum Zweifel, daß Nippons Industriegewaltige nicht kleckern, sondern klotzen werden. Zumal die Erschließungspläne von Rohstoffvorkommen in Sibirien und Zentralrußland längst in den Schubladen der japanischen Handelshäuser liegen. Vor allem aber kommen japanische Unternehmen, wie die westliche Konkurrenz weiß, selten allein; eine gemeinsame Offensive aller führenden Tokioter Handelshäuser für mehr Rußland-Hilfe zu Jahresbeginn vermittelte eine Vorahnung auf den verbliebenen japanischen Pioniergeist.
Tatsächlich dürfen die Äußerungen aus führenden japanischen Wirtschaftskreisen den Kremlchef hoffen lassen. „Enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen Japan und der Sowjetunion wären für beide Länder gut“, postulierte unlängst einer der Finanzstärksten des Landes, Mitsubishi-Bank-Chef Tsuneo Wakai, im taz-Gespräch. Ähnlich äußerten sich auch Nissan-Chef Takashi Ishihara oder der Canon-Vorsitzende Ryuzaburo Kaku. Dennoch sind den sonst allmächtigen japanischen Wirtschaftsriesen in diesem Fall die Hände gebunden. Denn sogar per Gesetz hat sich das Tokioter Parlament 1982 verpflichtet, gegenüber Moskau auf der Rückgabe der vier Kurileninseln zu beharren. Bereits im Jahre 1981 wurde der 7. Februar landesweit zum „Tag der nördlichen Gebiete“ erklärt — seither treten jedes Jahr am 7. Februar rechtsradikale Gruppen im Beisein des Premierministers zur staatlichen Feierstunde an. Im ganzen Land wurden 50 Millionen Unterschriften für die Kurilen gesammelt. Noch wagt niemand im Tokioter Establishment, gegen den populistischen Stumpfsinn mit Argumenten wirtschaftlicher Vernunft zu kontern.
Erschwerend wirkt darüber hinaus die Skepsis im japanischen Außen- und Finanzministerium. Um sich gegenüber dem Einfluß der Parteipolitik zu behaupten, vertreten die Spitzenbeamten des Tokioter Außenministeriums seit Jahren einen „harten“ Moskau-Kurs. Sie sorgen sich darüber hinaus über die immer beweglicher werdende Diplomatie zwischen China, Südkorea und der Sowjetunion.
Erschreckende Visionen
Die Visionen eines „ostasiatischen Helsinki“, die seit der Wladiwostok- Initiative Gorbatschows 1986 dabei immer wieder auftauchen, verschrecken die auf den Status quo eingeschworene japanische Diplomatie. Als der Tokioter Fernsehsender TBS vergangene Woche eine Direktschaltung zu den Kurilenbewohnern herstellte und damit die umstrittenen russischen Nachbarn erstmals live in die japanischen Wohnstuben holte, drohte das japanische Außenministerium sofort mit Sanktionen gegenüber TBS. Jegliche Berichterstattung von den Kurilen, so heucheln die Diplomaten seit Jahren, käme der Anerkennung sowjetischer Gebietsansprüche gleich. Tatsächlich machen sie es den Japanern damit nur unmöglich, die menschlich-soziale Seite der Kurilenfrage zu begreifen.
Derweil fürchten die Beamten im Finanzministerium, im Falle einer Eingigung mit Gorbatschow für riesige Kreditsummen bürgen zu müssen — Regierungspolitiker sprechen derzeit von Hilfspaketen bis zu einer Höhe von 28 Milliarden Dollar, und Gorbatschow mag davon träumen. Doch im Osten Hokkaidos, wo sich die Fischer nach ihrer verlorenen Heimat sehnen, ist jede Rußland- Hilfe tabu.
„Erst wollen wir die Inseln zurück“, meint Kampagnenführer Mitsuo Yanami in Nemuro, „dann können vielleicht auch wir helfen, für die Sowjets glücklichere Lebensbedingungen zu erwirken.“ Daß sich die 20.000 sowjetischen Siedler auf den umstrittenen Inseln in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit gegen die Rückgabe an Japan entschieden haben, stört die japanischen Vertriebenen überhaupt nicht. „Wir haben ein Recht auf die Inseln. Ohne ihre Rückgabe interessiert mich auch das Schicksal ihrer sowjetischen Bewohner nicht“, bemerkt Kaichi Ohya, der altersgraue Bürgermeister von Nemuro. Ohya kann sich diese Arroganz leisten. Den Milliardenkrediten läuft die Welt bis nach Nemuro hinterher. Georg Blume, Nemuro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen