Arbeitslosenzahl wird verdoppelt

■ Sachverständigenrat rechnet zum Jahresende mit 1,7 Millionen ostdeutschen Arbeitslosen und weiterhin zwei Millionen KurzarbeiterInnen/ Regierung und Opposition sehen sich bestätigt

Bonn (dpa/taz) — Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung rechnet bis zum Jahresende in den neuen Bundesländern mit einer Verdopplung der Arbeitslosenzahl auf 1,7 Millionen und weiterhin zwei Millionen Kurzarbeitern. In einem am Montag in Bonn veröffentlichten Sondergutachten raten die Wirtschaftsprofessoren der Regierung, konsequent auf die Kräfte des Marktes zu setzen. „Zu wirtschaftspolitischem Aktionismus gibt es keinen Anlaß“, meinen die „fünf Weisen“. Immerhin sehen sie ein, daß die „Euphorie“ nach der Währungsunion inzwischen „Unsicherheit und Furcht“ gewichen sei.

Auch bei einem raschen Aufschwung werde die Arbeitslosigkeit im Osten nur über Jahre hinweg abgebaut werden können. „Nicht jeder Arbeitslose wird in das Berufsleben zurückfinden“, meinen die Sachverständigen: Langzeitarbeitslosigkeit stehe bevor. In den neuen Ländern werde es auf Dauer weniger Arbeitsplätze geben als die etwa 9,5 Millionen zu DDR-Zeiten. Daß dies Frauen besonders betreffen wird, sagen die Sachverständigen nur indirekt: „Bei steigendem Einkommen wird es mehr Familien möglich sein, das erwünschte Haushaltseinkommen mit weniger Verdienern zu erwirtschaften.“

Die Bundesregierung solle sich nicht von der schlechten Stimmung in der Bevölkerung der ostdeutschen Länder zu „überhasteten Aktionen“ verleiten lassen. Staatliche Fördermaßnahmen für ostdeutsche Unternehmen sollten nicht ausgebaut, sondern so schnell wie möglich wieder abgebaut werden. Eine Fortsetzung des eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurses würde zu strukturellen Fehlentwicklungen führen. Ostdeutschland könne sonst auf Dauer von Subventionen abhängig werden. Staatliche Hilfen könnten den Aufschwung lediglich anschieben, sein Tempo aber nicht wesentlich beschleunigen, sondern eher alte Strukturen festschreiben, meinen die Hardliner.

Die ostdeutsche Wirtschaft werde „erst allmählich in Fahrt kommen“, meint der Sachverständigenrat. Die mittelfristigen Wachstumsaussichten seien aber „gut“. Der gegenwärtige Einbruch der ostdeutschen Wirtschaft werde nicht in eine dauerhafte Strukturkrise münden. Die ostdeutsche Wirtschaft könne „auf einen steilen Wachstumspfad einschwenken“. Die Menschen brauchten aber Zeit, um sich an die Marktwirtschaft zu gewöhnen. Die schwere Anpassungskrise der ostdeutschen Wirtschaft könne nur überwunden werden, wenn es zu einer grundlegenden Erneuerung komme.

„Nicht jeder findet ins Berufsleben zurück“

Von der Treuhandanstalt fordern die „fünf Weisen“, die Privatisierung weiter voranzutreiben. Von staatlicher Sanierung solle weitgehend abgesehen werden. Wenn eine Firma jetzt nicht zu privatisieren sei, dann sei dies auch ein sicheres Zeichen dafür, daß eine Sanierung nicht erfolgversprechend sei. „Der Erhalt unrentabler Arbeitsplätze hält den Strukturwandel auf“, erklärten die „fünf Weisen“. Nicht Arbeitsplätze oder Unternehmen gelte es zu schützen, sondern die vom Strukturwandel betroffenen Menschen. Der Übergang in den vorzeitigen Ruhestand und die Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen sollten deshalb gefördert werden.

„Kündigungsschutz aufheben“

Scharfe Kritik üben die Sachverständigen auch an der Lohnpolitik. Die „Aufholstrategie“ führe zu mehr Entlassungen. Die Tarife sollten mehr auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Betriebe Rücksicht nehmen. Der Sachverständigenrat empfahl auch, den Kündigungsschutz nach Paragraph 613a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) vorübergehend auszusetzen, um Betriebsübernahmen zu erleichtern. Außerdem sollten vorrangig Infrastrukturmaßnahmen gefördert werden, eventuell durch eine höhere Beteiligung des Bundes an kommunalen Projekten.

Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP), Finanzminister Theo Waigel (CSU) und auch die Bonner SPD-Opposition begrüßten das Sondergutachten. Möllemann und Waigel werteten es als Bestätigung ihrer Ansicht, daß die Umstellung einer zentral geleiteten Wirtschaft nicht durch die Vorgabe einer künftigen Industriepolitik erreicht werden könne. Sie stimmten der Auffassung der Sachverständigen zu, daß die Förderung der ostdeutschen Wirtschaft durch Subventionsabbau im Westen zu finanzieren sei. Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, Wolfgang Roth, unterstützte die Forderung nach sozialer Absicherung des Strukturwandels durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik. FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff nannte das Gutachten ein „klares Plädoyer für die Marktwirtschaft“.