Italien zwischen Paralyse und Petroleum

Die noch immer drohende Öl-Katastrophe beeindruckt die Intriganten bei der Regierungsbildung nicht im mindesten/ Wahrscheinlichkeit für neue Öl-Desaster: zwei bis drei pro Jahr  ■ Aus Rom Werner Raith

So recht weiß derzeit keiner, wer eigentlich wo was tun sollte, um das abzuwenden, was als „die schlimmste Bedrohung des Landes seit der Sintflut“ erscheint, wie der staatliche Rundfunk RAI kommentiert. Zwar liegt das ölgefüllte Tankschiff „Haven“ derzeit relativ ruhig auf Grund vor Genua; der Brand wurde durch den Untergang des Frachters gelöscht. Und im nahen Livorno hat man auch das Feuer auf dem von einer Fähre aufgespießten Tanker Agip Abruzzo unter Kontrolle. Doch die „Öko-Katastrophe“, sagt Kapitän Mario d'Angelo vom Sicherungsbegleitschiff „C.M.“, ist „damit noch nicht im entferntesten gebannt: Da braucht nur der Wind zu drehen, und dann schwimmt alles auf die Küste zu. Gut achtzig Kilometer sind dann im Nu bedeckt“.

Das Öl, meint D'Angelo, „läuft noch immer so kräftig wie, na sagen wir, wenn man eine Benzinzapfpistole voll aufdreht“. Darüber hinaus „wissen wir bisher noch nicht einmal genau, warum der Ausfluß derzeit relativ gering ist“: Tatsächlich ist noch längst nicht ausgemacht, ob der Ölstrom nur deshalb fast versiegt ist, weil die Verschlüsse und die Containerdecks bisher gehalten haben oder weil sich „das Petroleum derzeit im oberen Teil der Hohlräume gesammelt hat, aber bei der geringsten Neigung oder Schaukelei des Schiffs aus darunter befindlichen Lecks wieder rauszudrücken beginnt“.

Da müßten riesige Barrieren vor die Küsten geschafft, alle paar Kilometer Absaugvorrichtungen bereitgestellt, Rettungsmittel nicht nur für die bisher sporadisch aufgefischten Seevögel, sondern auch für das Landgetier ringsum deponiert sein. Davon ist kaum etwas zu sehen — und so genau weiß ja auch keiner, wer so etwas anordnen soll. Gewiß ginge es da nicht mehr nur um ein paar Millionen Mark für Gummibarrieren und einigen Löschschaum. Sondern um viele hundert Millionen, wenn man auch nur „die Hälfte dessen als realistisch ansieht, was die Experten als wahrscheinlich angeben“, schreibt 'La Stampa‘.

Aber Italiens Politiker haben derzeit anderes zu tun. Sie widmen sich wieder einmal ihrem Lieblingsspiel: der Palastintrige, dem Akquirieren von Macht und Einfluß. „Wo jedes andere Land den nationalen Notstand erklärt und alle verfügbaren Mittel eingesetzt haben würde“, grollte Leitartikler Giorgio Bocca, „rotieren die Unseren mit ihren gepanzerten Limousinen und ihren Polizeieskorten um sich selbst, kippen hier einen Staatssekretär, vereinbaren dort einen anderen Bankpräsidenten.“

In der Tat: Die eben ins Amt stolpernde fünfzigste Nachkriegsregierung, die siebte des Stehaufmännchens Andreotti, hat bisher noch keine Zeichen gegeben, daß sie diese Katastrophen ernst nimmt. Obwohl ihnen Experten inzwischen in aller Eindringlichkeit vorgerechnet haben, daß alleine das auch in gewöhnlichen Jahren vor Italiens Küsten ins Meer gekippte Öl schon ein Vielfaches der gut 100.000 Tonnen Ladung im Bauch der „Haven“ ausmacht. Ein seit Jahren unter Verschluß gehaltenes Papier des Ministeriums für die Handelsschiffahrt weist darauf hin, daß sich solche Katastrophen auch künftig pro Jahr in Größenordnungen von „zwei bis drei spektakulären, sofort desaströsen und fünfzig bis siebzig kleineren, oft nicht einmal bekanntwerdenden Unfällen ereignen werden“.

Am Wochenende zogen die Republikaner, die bisher neben Christ- und Sozialdemokraten, Sozialisten und Liberalen in der Regierung vertreten waren, ihre drei Minister zurück, weil ihre Leute ungefragt im letzten Moment noch auf andere Posten umgesetzt worden waren. Am Sonntag behauptete Andreotti, alles gelöst zu haben, am Montag verkündeten die Republikaner, daß sie nun auch die angekündigte „externe Unterstützung“ aufgeben werden. „Statt der großen Hilfe die große Krise“, murrte 'Il Mattino‘ aus Neapel, einem der ölgefährdetsten Gebiete ganz Europas. „Und statt über die Sicherheit der Meere zu reden, schwätzen wir über eine neue Republik.“ Staatspräsident Cossiga reibt sich die Hände, weil er nun wieder gefragt ist und die Drohung einer Parlamentsauflösung leichter wahrmachen kann — die 140 Toten des Schiffszusammenstoßes sind beerdigt, Schwamm drüber.

In der Bevölkerung gibt es längst niemanden mehr, der „angesichts dieses Zynismus gerade während eines keineswegs nur momentanen, sondern tiefgreifend strukturellen Katastrophenfalles“ ('Il Manifesto‘) das Verhalten der Regierung billigt. Die meisten verstehen es nicht einmal mehr. Doch dieses ist im „Palazzo“ des Machtapparates in Rom einigen gerade recht: Ihnen kommt die Hilflosigkeit der Amtsträger ebenso zupaß wie der Ärger der Bürger, können sie doch auf diese Weise ihr Modell einer „starken Republik“ — einer autoritären Wende — besser verkaufen. „Alles, was dem Volk den Abschied von dieser ersten Nachkriegsrepublik leichter macht“, so ein Studienpapier eines Sozialisten-nahen Instituts, „und was die Menschen nach einer starken, effektiven, zentralisierten Machtausübung rufen läßt, sollte man unterstützen oder gar noch verschärfen.“ Mitunter scheint es, als warteten die Wende-Politiker regelrecht auf Katastrophen dieser Art.