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Große Polemik statt großen Konsenses

■ Erbittert streiten Regierung und Opposition über Sinn und Zweck der vereinbarten Gesprächsrunden/ SPD erwartet „erhebliche Zugeständnisse“, Union sieht keinen Bedarf für „sozialistische Ladenhüter“

Berlin (dpa/afp/taz) — Noch bevor die zwischen Bundeskanzler Kohl und SPD-Chef Vogel vereinbarten Kommissionen zur Krisenbewältigung im deutschen Osten auch nur installiert sind, scheint die Konsensbereitschaft zwischen Regierung und Opposition schon wieder verflogen. Der in den letzten Tagen heftig beschworenen Kooperationswilligkeit „im Interesse der Menschen“ folgte gestern der polemische Schlagabtausch, mit dem beide Seiten ihre Interpretation der Gespräche präsentierten. Während Vogel noch einmal bekräftigte, die SPD erwarte bei den Gesprächen „erhebliche Zugeständnisse“, werde aber auch in Zukunft auf „massive Kritik“ der Bundesregierung nicht verzichten, versuchte der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Friedrich Bohl, das parteitaktische Kalkül der SPD zu entlarven: Die SPD versuche jetzt auf den „losgefahrenen Zug aufzuspringen“, weil sie erkannt habe, daß sich die Koalition auf „Erfolgskurs“ befinde. Es sei absurd, wenn die SPD erkläre, mit den Gesprächsrunden solle der Regierung „geholfen“ werden. Vielmehr erweise die Regierung der Opposition mit der Einladung zum Gespräch einen Dienst. Denn, so Bohls klares Fazit: „Wir wollten die Gespräche nicht, und wir brauchen die Gespräche nicht.“

Trotz dieser nicht gerade erfolgversprechenden Vorrunde ließ sich Vogel gestern nicht abhalten, die SPD-Forderungen für die Kommissionen zu präsentieren: Vorrang des Prinzips der Sanierung vor der Privatisierung bei den Betrieben und die Einrichtung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften „auf breiter Front“. Weiter fordert die SPD den Vorrang der Entschädigung vor der Rückgabe enteigneten Vermögens, den Verzicht auf die von der Koalition beschlossene Abschaffung der Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer sowie die Entsendung von Beamten „als äußerstes Mittel“ für den Verwaltungsaufbau in den neuen Ländern. Weitere Steuererhöhungen für die Finanzierung der Einheitskosten seien dagegen aus Sicht der SPD derzeit kein Thema. Vogel wertete die vereinbarten Kommissionen als Chance, SPD- Vorstellungen durchzusetzen: Im Unterschied zum ersten und zweiten Staatsvertrag über die deutsche Einigung lege diesmal die SPD der Regierung etwas vor. Der designierte SPD-Parteichef Björn Engholm erklärte, bei einer Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition müsse der Anteil der SPD „deutlich erkennbar“ werden. Kohl könne aber nicht erwarten, daß die SPD den Rettungsanker spiele, wenn seine Regierung „baden ginge“. Man werde sich jedenfalls nicht durch das „parteitaktische Machtkalkül des Bundeskanzlers“ ausbooten lassen. Bei solchen Versuchen der Koalition würden Gewerkschaften und SPD die Lust an der Mitarbeit schnell verlieren, was unweigerlich zum „absoluten Ende der Regierung“ führe.

Demgegenüber gab sich Kohl wohlwollend-selbstsicher: Bei den geplanten Treffen handele es sich lediglich um „Gesprächskreise“, in denen nichts entschieden werde. Bohl warnte die Opposition vor Illusionen: Die Regierung sei keinesfalls bereit, ihre „bewährte Politik durch sozialistisch angehauchte Ladenhütermethoden in Mißkredit bringen zu lassen“. Die SPD dürfe zwar „erwägenswerte Vorschläge“ machen und werde im übrigen über die Maßnahmen in der ehemaligen DDR informiert; doch regieren werde die Koalition alleine. Die SPD solle die Gespräche nicht als „Trittbrettfahrt an die Macht“ mißverstehen.

Der SPD-Chef ließ erkennen, daß es in der engsten SPD-Führungsspitze andere Auffassungen über den Kurs der Zusammenarbeit mit der Regierung gibt. In der Präsidiumssitzung am Vortag habe es unterschiedliche Einschätzungen über die Erfolgsaussichten gegeben. Es sei auch kein Geheimnis, daß es über die „grundsätzliche Kofliktführung“ mit der Regierung verschiedene Einschätzungen gebe. Es sei aber niemand dagegen gewesen, wenigstens den „Versuch“ zu unternehmen, die Koalition von SPD-Vorstellungen zu überzeugen. Notwendig seien auch schnelle Ergebnisse. Dieser Zeitdruck ergebe sich aus der sich ständig verschlechternden Lage im Osten. eis

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