Hungersnot in einer öden Steppe

200.000 Menschen sind seit Jahresbeginn aus Somalia nach Äthiopien geflohen und verschärfen das ungelöste Flüchtlingsproblem der Region. „Die Krise droht nicht“, sagt ein Verantwortlicher, „sie ist da.“  ■ Von Bettina Gaus

Qureisha liegt ganz ruhig und scheinbar völlig entspannt auf einer Matratze. Ihr kleines Gesicht ist glatt, dichte braune Locken kräuseln sich vor der Stirn. Ihr Körper ist unter einer Decke verborgen. Ein etwa eineinhalbjähriges Mädchen scheint hier zu schlafen. Aber Qureisha ist drei Jahre alt — und unterernährt.

Der Vater beugt sich über sein Kind und streichelt ihm die Wangen, sanft zunächst, dann mit steigendem Nachdruck. Er drückt in das Fleisch, schlägt in das Gesicht, preßt die geschlossenen Augen auf, als könne er so seiner Tochter ein Lebenszeichen entlocken. Die Mutter steht leise weinend daneben. Qureisha rührt sich nicht, gibt keinen Laut von sich. Vor wenigen Minuten ist sie gestorben, hier im Zelt für schlimmste medizinische Notfälle des Flüchtlingslagers Derwonaji an der äthiopisch- somalischen Grenze. Doch noch wollen es die Eltern nicht glauben.

Etwa zehn Todesfälle werden jeden Tag aus Derwonaji gemeldet. Die meisten Opfer sind Kinder: einer Lungenentzündung erlegen, bei schwerer Unterernährung genügt auch eine Erkältung. Und zuweilen findet sich in den Akten der lapidare Vermerk: Verhungert.

Qureisha wird in eine Decke eingehüllt, bevor der Vater sie zum letztenmal auf die Arme nimmt und fortträgt. Die Umstehenden bilden eine Gasse. Niemand folgt dem Mann, der hoch aufgerichtet mit seiner allzu leichten Last im unüberschaubaren Meer der notdürftig aus Zweigen und Lumpen gebastelten Hütten des Flüchtlingslagers verschwindet.

Qureishas Grab ist bereits ausgehoben. Am Rande des Lagers warten einige offene Gruben auf die jüngsten Opfer. Das kleine Mädchen wird nicht alleine ruhen: Um Kraft zu sparen, werden hier zwei, manchmal drei Tote gemeinsamn bestattet. Nur einige aufgehäufte Steine bezeichnen später den genauen Platz.

Das tote Kind gehört zu jenen etwa 200.000 Menschen, die seit Jahresbeginn von Somalia aus über die Grenze nach Äthiopien geflüchtet sind, in eine Gegend, wie sie sich unwirtlicher kaum denken läßt: Eine steinige, öde Steppe erstreckt sich hier bis zum Horizont. Kadaver von Rindern und Ziegen, die der langen Dürre zum Opfer gefallen sind, säumen in allen Zuständen der Verwesung die Straßen. Ab und zu gerät ein verrottender Panzer ins Blickfeld — Überbleibsel des blutigen Krieges um das Ogaden-Gebiet 1977/78, den Äthiopien damals mit sowjetischer Hilfe gewann und von dessen Folgen sich das Regime in Somalia politisch und wirtschaftlich niemals ganz erholte.

Gefangen im Niemandsland

Seit rund drei Jahren bereits fristen hier Hunderttausende von Flüchtlingen, die vor dem Bürgerkrieg im Norden Somalias davongelaufen sind, ihr Dasein. Ihr Leben war bisher ärmlich, aber dank internationaler Hilfe nicht unmittelbar bedroht. Der Ansturm der Neuankömmlinge dieses Jahr aber hat die Lage dramatisch verschärft. Niemand weiß, wie viele es heute wirklich sind. An zehn Sammelstellen im Ogaden und in der Harerge-Gegend haben sich seit Jahresbeginn neue Flüchtlinge niedergelassen. Aber es gilt als sicher, daß sie viele Leidensgenossen haben, die bisher vergeblich auf Hilfe warten: „In einem Land wie Äthiopien mit seinem mangelhaften Straßennetz und seinen unzureichenden Informationsmöglichkeiten kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß viele Menschen an abgelgenen Orten gestrandet sind, die wir überhaupt nicht erreichen können“, sagt Nicholas Southern von der nichtstaatlichen Hilfsorganisation „Save the Children“. „Und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Situation dieser Flüchtlinge mindestens genauso schlimm ist wie derjenigen, zu denen wir Zugang haben.“

Die Hilfesuchenden, die fast all ihre Habe zurücklassen mußten, sind im Niemandsland zwischen Äthiopien und Somalia gefangen. Der Rückweg ist ihnen versperrt. Nach dem Sturz des Diktators Siad Barre Ende Januar ist in Somalia ein Machtvakuum entstanden. Rivalisierende Gruppen kämpfen um die Herrschaft, Plünderungen und Überfälle sind seit Monaten an der Tagesordnung. Und es wird noch Jahre dauern, bis die Folgen des blutigen Bürgerkrieges beseitigt sind: Allein in der Umgebung der nordsomalischen Hafenstadt Berbera soll das alte Regime 200.000 Tretminen gelegt haben — „eine für jeden Flüchtling“, wie ein Helfer bitter bemerkt. Aber auch weiter nach Äthiopien hinein, wo Hilfe leichter wäre, können die Neuankömmlinge vorläufig nicht — und das, obwohl die überwältigende Mehrheit von ihnen gar nicht somalische, sondern äthiopische Staatsbürger sind, die einst vor dem Ogaden-Krieg nach Somalia flüchteten und seither auf eine Gelegenheit zur Heimkehr warten.

Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) hat in einer aufwendigen Operation und in Absprache mit den beiden damaligen Regierungen in den letzten Jahren versucht, Repatriierungen nach Äthiopien zu organisieren. Aber das Ergebnis war mager: Gerade ein paar Tausend gelangten im Laufe von 24 Monaten über die Grenze. Allzu perfektionistisch war die Haltung des UNHCR, auch verzögerte die äthiopische Regierung, die in vielen der Flüchtlinge politische Gegner sah, die Heimkehr der Exilanten. Im Norden Somalias wurde das Projekt schließlich vorübergehend völlig aufgegeben: Die Widerstandsbewegung „Somalischer Nationalkongreß“, die schon lange vor Barres Sturz weite Gebiete der Region kontrollierte, verdächtigte die Flüchtlinge der Kollaboration mit dem Regime in Mogadischu — die Lage wurde für die Mitarbeiter internationaler Organisationen immer gefährlicher. Seit September letzten Jahres waren die Flüchltlinge völlig ohne Unterstützung.

Theoretisch könnten sie nun nach Hause: Äthiopiens Regierung hat inzwischen den Weg grundsätzlich freigegeben. Aber jetzt stehen allzu viele praktische Hindernisse einer Heimkehr im Wege, Zahlreiche Rückkehrer sind nach monatelangen Entbehrungen zu schwach, um auch nur eine Reise von wenigen Kilometern zu bewältigen.

Die Kinderkrankenschwester Fiona O'Reilly gehört zu dem kleinen Team medizinischer Hilfskräfte, die sich in dem Auffanglager Kebri Biyah um diejenigen kümmert, denen es am schlechtesten geht. „In anderen Flüchtlingslagern kommen Kinder, die weniger als 65 Prozent ihres Normalgewichts wiegen, in Zelte, wo sie 24 Stunden am Tag medizinisch betreut werden. Aber hier gibt es Hunderte dieser Kinder. Wir können sie nicht alle aufnehmen.“ Das Notfallzelt, das in aller Eile organisiert werden mußte, wurde schon jahrelang in einem anderen Lager benutzt — die Ränder sind ausgefranst, die Wände zerrissen und durchlöchert. Die Listen, die die Ursachen der mehr als 90 Todesfälle im Laufe der letzten elf Tage ausweisen, sprechen eine deutliche Sprache: Lungenentzündung, Unterernährung, verhungert, verhungert, verhungert.

15.000 Rückkehrer warten in Kebri Biyah auf ihre Heimkehr. Etwa die Hälfte von ihnen stammt aus Orten in einem Umkreis von nur 15 Kilometern. Aber die Bevölkerung in ihrer alten Heimat hungert selbst. Nach übereinstimmenden Berichten verschiedener Hilfsorganisationen ist das Ausmaß der Not dem der berühmten Hungerkatastrophe von 1984/85 durchaus vergleichbar. „Die Krise droht nicht — sie ist da“, sagt Nicholas Southern. „Es ist ein Szenario der schlimmsten aller möglichen Umstände. Alles, was schief gehen kann, geht schief: Der Bürgerkrieg eskaliert, die Wirtschaft ist bankrott, es gibt kein Benzin, das Land wird von Dürre, Schädlingen, Tierseuchen, Überflutungen und Hagelstürmen heimgesucht.“ Die Menschen in der Region können keine zusätzlichen Esser ernähren. Ohne Starthilfe der internationalen Gebergemeinschaft können die Bewohner von Kebri Biyah nicht nach Hause gehen — diese Hilfe aber kommt nur zögernd.

Seit Monaten absehbar

Der Sturz des Regimes von Siad Barre in Somalia kam nicht über Nacht. Seit Monaten war absehbar, daß der blutige Bürgerkrieg eine große Zahl von Flüchtlingen über die Grenze treiben würde. Aber das UNHCR war auf den Ansturm nicht vorbereitet: „Die UN-Leute haben sich an uns wegen buchstäblich aller Hilfsgüter gewandt“, sagt der Mitarbeiter einer nichtstaatlichen Organisation. „Sie wollen von uns Plastikplanen für die Hütten, Decken, einfach alles. Aber auf die Versorgung so vieler Leute sind wir nicht eingerichtet.“

So sind viele Flüchtlinge jetzt, während der Regenzeit, nicht einmal vor Kälte und Unwettern geschützt. Schlechte Planung, wie sie UN-Behörden ja häufig vorgeworfen wird? Cecil Kbenou, UNHCR-Vertreter in Addis Abeba, weist das zurück: „Ich habe im letzten Jahr dringlich an die Geber appelliert, um Vorräte für drei Monate anlegen zu können“, betont er. Aber die Bitte sei ungehört verhallt. Er habe buchstäblich nichts, was er verteilen könne. Kbenous Darstellung wird aus anderer Sicht bestätigt: „Das UNHCR ist in den letzten zehn Jahren ständig wegen Überbürokratisierung und Ineffizienz angegriffen worden“, meint der Vertreter einer Hilfsorganisation. „Die Folge ist, daß es jetzt wirklich unterversorgt wird.“

Ein Kollege wirft den zuständigen Regierungen vor, nach falschen Gesichtspunkten Hilfe zuzusagen: „Das einzige was die Politiker interessiert, ist, daß man ihnen nicht vorwerfen kann, nichts für die Kinder in Äthiopien zu tun, wenn diese konkret verhungern. Kein Mensch setzt sich dafür ein, es durch sorgfältige Planung gar nicht erst so weit kommen zu lassen.“ Die Fachleute möchten zu diesen Themen nicht mit ihren Namen zitiert werden — politische Äußerungen jeglicher Art, so fürchten sie, könnten ihre Arbeit gefährden.

Die Folgen der abwartenden Haltung seitens der Geber hat für die Flüchtlinge verheerende Folgen: „Wenn wir von Anfang an genügend Nahrung und andere Hilfsgüter gehabt hätten, wäre es vielleicht möglich gewesen, wenigstens einen Teil der Heimkehrer zu repatriieren und die Lage so zu entspannen“, sagt Fazli Fazlnlhaq vom UNHCR, der früher auf somalischer Seite arbeitete. „Inzwischen geht es den Leuten so schlecht, daß wir zwischen Heimkehrern und Flüchtlingen gar nicht mehr unterscheiden können und nur noch dort versuchen, mit dem Nötigsten einzuspringen, wo es gerade am schlimmsten ist.“ So weitet sich ein akutes Problem zu einem Langzeitproblem aus: „Die Leute werden allmählich von den freien Hilfslieferungen abhängig und verlieren Selbstvertrauen und Eigeninitiative“, meint Fazlnlhaq.

Den Flüchtlingen selbst bleibt überhaupt kein Handlungsspielraum. Im unüberschaubaren Heer der Notleidenden gerät das individuelle Schicksal des Einzelnen aus dem Blickfeld. Dabei haben die meisten schon jetzt mehr ertragen müssen, als Menschen gemeinhin auszuhalten vermögen, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen.

Im Notfallzelt von Derwonaji sitzt eine junge Frau: Jurab. Sie hält ein Baby auf dem Schoß, das auch für das Auge des Laien dem Hungertod nahe zu sein scheint. Es ist das letzte Kind, das ihr geblieben ist: „Die beiden anderen sind unterwegs gestorben. Sie waren drei und fünf Jahre alt.“ Neben Jurab kauert eine alte Frau mit zwei etwas größeren Jungen: „Ich bin die Großmutter. Der Vater der beiden ist verschollen. Die Mutter war meine Tochter. Sie war im neunten Monat schwanger. Auf der Flucht ist sie von einer Kugel tödlich getroffen worden.“

Rationen halbiert

Vor dem Zelt steht die sechsjährige Horab. Sie gleicht mehr einem Gerippe als einem Kind. Ihre dünnen Arme scheinen zu zerbrechen, wenn man sie bloß anschaut. „Horab hat sich gut erholt“, sagt ein Krankenpfleger, „sie kann schon wieder laufen.“ Die Eltern des Mädchens sind tot — auf der Flucht umgekommen. Eine Tante kümmert sich jetzt um das Kind.

Um die schlimmsten Mängel zu beheben, zweigen die Hilfsorganisationen so viel wie möglich aus dem schon seit Jahren bestehenden Flüchtlingslager Hartisheik ab — aber das führt wiederum dort zu Schwierigkeiten. „In den letzten drei Wochen haben wir nur die Hälfte der üblichen Getreiderationen erhalten,“ klagt ein Flüchtling dort. „Außerdem haben viele Neuankömmlinge noch keine Registrierungskarten und leben zunächst einmal als unsere Gäste mit uns. Dafür haben wir zu wenig.“ Ein Mann, der bereits Ende Januar im Hartisheik angekommen ist, bestätigt: „Ich habe immer noch kein eigenes Zelt. Meine Familie und ich sind in den letzten Monaten in der Hütte von Verwandten, die schon länger hier leben, untergekommen.“

Wie dramatisch die Situation ist, läßt sich vielleicht am besten an jenem Bereich ablesen, der halbwegs unter Kontrolle zu sein scheint: der Wasserversorgung. Sie liegt in der Verantwortung der Hilfsorganisation Care, deren Mitarbeiter jeden Tag die Lager mit Tanklastwagen anfahren. Neue Bohrlöcher wurden erschlossen, die verteilte Wassermenge reicht zur Befriedigung der notwendigsten Grundbedürfnisse aus — aber eben nur dafür: „Das Wasser, das beispielsweise an die Tausenden von Menschen im Lager Teferiber täglich ausgegeben wird, entspricht dem statistischen Tagesverbrauch von nur 31 US-Bürgern,“ sagt Scott Faiia, Care-Vertreter in Addis Abeba. „Der Ausbruch von Seuchen ist unsere große Angst — wenn das passiert, sind wir verloren.“

Inzwischen liegen eine Reihe von Hilfszusagen verschiedener Regierungen vor — aber es wird noch lange dauern, vielleicht Monate, bis die versprochenen Güter auch tatsächlich eintreffen. Die Geber sind der Katastrophenmeldungen aus Äthiopien müde, glauben viele westliche Beobachter in Addis Abeba. Auch fürchten die Industrieländer, mit großzügigen Spenden möglicherweise unfreiwillig das geächtete Regime von Präsident Mengistu Haile Mariam zu stützen, das durch militärische Erfolge von Widerstandskämpfern immer mehr in Bedrängnis gerät. Das Mißtrauen scheint allerdings weitgehend unbegründet zu sein: Mitarbeiter verschiedener Organisationen betonen immer wieder, die Regierung verhalte sich gegenwärtig bei der Verteilung der für Heimkehrer und Flüchtlinge bestimmten Hilfsgüter ungewöhnlich korrekt.

Aber es werden eben bei weitem zu wenig Hilfsgüter für die Flüchtlinge aus Somalia geliefert. Und es sind nicht nur politische Überlegungen, die ihre Lage ungünstig beeinflussen — auch die Naturgewalten richten sich gegen sie: Sintflutartige Regenfälle, wie es sie in der Region seit Jahren nicht mehr gab, haben die Straßen zu den meisten Lagern über Tage hinweg unpassierbar gemacht. Die Notleidenden sitzen in der Falle.