: Rücktritt Gorbatschows gefordert
■ Konservative „Sojus“-Gruppe verlangt Ausnahmezustand und die Absetzung des Präsidenten/ Auch Reformer Bakatin und Popow favorisieren autoritäre Lösung/ Pawlow legt Krisenprogramm vor
Moskau (ap/ taz) - Einen Tag vor der geplanten Parlamentsdebatte über die Einführung eines Antikrisen-Programmes hat die einflußreiche konservative Parlamentariergruppe Sojus (Union) erneut die Verhängung eines Ausnahmezustands in der Sowjetunion gefordert. Nach den Worten des Vorsitzenden der Gruppe, Juri Blochin, soll diese außerordentliche Maßnahme für sechs Monate gelten, um in dieser Zeit die Lage im Lande zu stabilisieren und es aus der wirtschaftlichen Krise herauszuführen. Indessen kündigte Regierungschef Walentin Pawlow an, daß sein Antikrisen-Programm eine Reihe von „unpopulären Maßnahmen“ enthalten werde, über die das Parlament in dieser Woche entscheiden müsse. Zur Durchsetzung des Programms benötige er aber weitere Vollmachten.
Das Pawlowsche Paket, enthält konkrete Schritte zur „Entstaatlichung“ des Eigentums, zur Gesundung des Finanzsystems und einen „neuen Kurs“ bei der Bezahlung der Arbeit und der Preispolitik. Dahinter dürften sich Preissteigerungen verbergen, die durch erhöhte Löhne teilweise wieder aufgefangen werden sollen. Außerdem soll laut 'Tass‘ „die Schaffung des echten Eigentümers“ beschleunigt und die Möglichkeit privater Einkünfte durch nichts mehr begrenzt werden. „Unpopuläre Maßnahmen haben wir lange abgelehnt“, sagte Pawlow nach der Sitzung am Samstag abend im sowjetischen Fernsehen.
Der Vorsitzende der etwa 700 Delegierte umfassenden Abgeordnetengruppe Sojus, Blochin, sagte, die Präsidentenmacht habe sich im ersten Jahr ihres Bestehens als „ungeeignet“ erwiesen, die Probleme der UdSSR zu lösen. Die Lage habe sich vielmehr weiter verschlechtert. „Wenn der Präsident nicht in der Lage ist, den Bürgerfrieden und die Menschenrechte zu garantieren, dann ist die Deputiertengruppe Sojus bereit, die volle Verantwortung für die Einführung des Ausnahmezustandes zu übernehmen“. Blochin bezeichnete es als „verfassungsmäßige und moralische Pflicht“ Gorbatschows, sofort über die gesamte Sowjetunion für die Dauer von sechs Monaten den Ausnahmezustand zu verhängen, um die Lage zu stabilisieren und das Land aus der Krise zu führen.
Blochin forderte die Deputierten aus allen Teilen der UdSSR auf, eine entsprechende Resolution zu unterstützen. Während der Zeit des Ausnahmezustandes müßten die Obersten Sowjets der Unionsrepubliken suspendiert werden und alle örtlichen Instanzen und Betriebe den Weisungen Moskaus folgen, erklärte er. Der Staat müsse alle Versammlungen und Oppositionsgruppen verbieten, die Umsatzsteuer aufheben und die Preiserhöhungen für Lebensmittel und andere Grundbedarfsgüter aufheben.
Oberst Viktor Alksnis, der ebenfalls zu den Wortführern der Sojus- Gruppe gehört, fügte hinzu: „Gorbatschow wird das aber nie tun. Uns bleibt daher nur der Ausweg, Unterschriften für die Einberufung einer außerordentlichen Tagung des Parlaments zu sammeln.“ Von Mitgliedern der Fraktion war schon Anfang des Monats von einer solchen Unterschriftensammlung für die Einberufung des Kongresses der Volksdeputierten mit dem Ziel der Ablösung des Präsidenten bekanntgeworden. Einen Bericht der Reformerzeitung 'Nesawisinaja Gaseta‘ zufolge sei als Nachfolger Gorbatschows Anatoli Lukjanow vorgesehen, der Vorsitzende des Obersten Sowjet der UdSSR. Als Kandidaten kämen auch Vizepräsident Gennadi Janajew und Walentin Pawlow in Frage.
Für eine starke zentrale Autorität setzten sich am Samstag führende Vertreter der radikalen Reformer ein, darunter der Moskauer Bürgermeister Gawriil Popow und der ehemalige Innenminister Wadim Bakatin, allerdings mit dem Ziel einer Sicherung der Demokratie, darunter der Zurückdrängung des Einflusses der Kommunistischen Partei auf die Armee und den Staatssicherheitsdienst. Kommenden Donnerstag tritt das Zentralkomitee der KPdSU zusammen und wird sich dem Vernehmen nach mit der Amtsführung seines Generalsekretärs Gorbatschow befassen.
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