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Konfetti, Böller & Hundebiß

■ Abriß in der Altstadt für ein Hotelprojekt stört die Marburger Polit-Harmonie

Marburg (taz) — Als die überwältigende Mehrheit der Marburger Stadtparlamentarier bei der entscheidenden Abstimmung am vergangenen Freitag die Arme zum Verkauf des Biegenecks reckte, da explodierten nur drei Böller mit Konfetti, das auf die Abgeordneten und den kurz vorher überreichten goldenen Abrißbagger niederrieselte. Eine unerwartet gemäßigte Reaktion, gemessen an den Auseinandersetzungen der letzten Wochen.

Denn der politische Frieden in der idyllischen Universitätsstadt Marburg, seit 1985 in Stadt und Landkreis von SPD und Grünen nicht ohne Erfolg regiert, ist seit Wochen dahin: Dafür verantwortlich ist ein Hotelprojekt, das SPD und mit Magenschmerzen auch die koalitionstreuen Grünen am Fuße der Fachwerkstadt im sogenannten „Biegeneck“ realisiert sehen wollen.

Gegen dieses Projekt, dem circa 30 BewohnerInnen, verschiedene Sozialinitiativen und sechs Kleingewerbebetriebe — von der Pizzeria bis zum alteingesessenen Fahrradgeschäft — weichen müßten, regt sich heftiger Widerstand. Zum Teil unter skurrilen Begleitumständen. Bei einer kurzzeitigen Besetzung des Oberbürgermeisterbüros Mitte Februar schnappte der mitgeführte Berner Sennerhund „Bijou“ OB Hanno Drechsler (SPD) nach der Wade und sorgte in der 70.000-Einwohner- Stad für nachkarnevalistische Heiterkeit. Der promovierte Politologe und mit 21 Jahren Amtszeit dienstälteste hessische OB kündigte daraufhin in merkwürdiger Anlehnung an die Sender-Gleiwitz-Affäre an: „Ab heute wird zurückgebissen.“ Gegen seine Ehefrau, die eine Biegeneck- Gastwirtin kurz darauf auf offener Straße als „Asoziale“ bezeichnet hatte, wurde mittlerweile eine Beleidigungsklage angestrengt.

Dem ganzen Streit liegt ein politischer Zielkonflikt sowie eine gehörige Portion Dilettantismus zugrunde. 1987 trat die noch junge rot- grüne Kommunalregierung mit einem für die achtziger Jahre typischen urbanen Modernisierungsprojekt an die Öffentlichkeit: In dem Gebiet zwischen Lahn und Oberstadt sollte als städtebauliches Entrée eine „Kulturschiene“ mit Theater, Kunsthalle, studentischem Kommunikationszentrum und Hotel entstehen, von Spöttern als „Marburger Museumsufer“ etikettiert.

Heute ist das ehrgeizige Projekt auf das Hotel zusammengeschrumpft. Als Standort wurde von der SPD ausgerechnet das bebaute Biegeneck auserkoren, obwohl sich ein wesentlich potenterer Investor für ein unbebautes Parkplatzgelände in unmittelbarer Nachbarschaft interessiert hatte.

Zwar hat der von SPD und Grünen dominierte Magistrat den BewohnerInnen Ersatzwohnraum angeboten und gerade in den letzten Monaten verstärktes wohnungspolitisches Engagement gezeigt. Die Biegeneckler, die sich der Sympathie der heimischen Presse und eines beträchlichen Teils der Bevölkerung erfreuen, haben ihrerseits ein Sanierungskonzept vorgelegt. Für sie geht es auch um Bedürfnisse und eine Vorstellung von „Urbanität“, die im Stadtplanungskonzept der rot-grünen Kommunalregierung übersehen zu werden drohen: das, was in einem Flugblatt als „unreglementiertes Leben“ bezeichnet wurde.

Den Grünen hat der Konflikt heftige interne Debatten und Kampfabstimmungen mit wechselnden Mehrheiten beschert. Selbst in der normalerweise geschlossenen und koalitionstreuen elfköpfigen Stadtparlamentsfraktion gab es ein Minderheitenvotum gegen das Hotelprojekt am Biegeneck. Und trotz der überwältigenden Parlamentsmehrheit von CDU bis Grünen-Mehrheit wird auch im Rathaus nicht damit gerechnet, daß der geplante Abriß reibungslos über die städtische Bühne gehen wird. Richard Laufner

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