Revolte auf dem Tanzparkett

■ Der Tanzlehrer ist der Meister. Ohne Methodik zwar, ohne Lehrmittel, aber immerhin war er mal gut. Sein Unterricht ist so alt wie seine Triumphe. Tanz als Strafe? Plädoyer für eine Neudefinition

Meine Frau und ich tanzen seit acht Jahren. Wir tanzen gern. Ab und zu haben wir Schwierigkeiten. Meine Frau ist eindeutig besser als ich. Ich weiß das. Wenn sie mich allerdings wegen schiefer Schulter oder taktlosem Schritt kritisiert, halte ich es schnell für Meckerei. Ich meckere zurück, und schon packt einer die Tanzschuhe ein. Bisweilen wollen wir aufhören, wie viele es tun. Zu viele.

Ganz nah

Richtig zu stehen und zu gehen fällt uns zivilisierten Menschen schwer. Jeder Versuch, sich am anderen festzuhalten, bringt beide aus dem Gleichgewicht. Wir wollen mehr, wollen uns im gleichen Rhythmus bewegen. Meine Frau bewegt sich zu mir spiegelbildlich oder in eigener Weise. Ich kenne ihre Schritte nicht. Nur in der Liebe, beim Catchen und beim Eiskunst-Paarlauf ist man sich so verteufelt nah wie auf dem Parkett. Wenn meine liebe Frau, durchweg unaufgefordert, meine Bewegungen kommentiert, passiert das 15 Zentimeter von meinem Ohr entfernt. Ich hasse das.

Auftritt der Tanzmeister

Zu diesen Lernschwierigkeiten gesellen sich die Unzulänglichkeiten des Lehrbetriebs. Der gute Tanzlehrer — Mann oder Frau — ist die halbe Miete. Doch deren Qualifikation ist sehr unterschiedlich. Gute Tanzlehrer sind rar und heiß begehrt. Die Altersstruktur der bremischen Tanzlehrer zum Beispiel ist noch ungünstiger als die der Lehrerschaft im öffentlichen Dienst. Ich schätze das Durchschnittsalter auf zwischen 50 und 60 Jahre. Das verschärft die Lage. Tanzlehrerinnen sind selten und zumeist Pendant oder Anhängsel ihrer Angetrauten.

Das schlichte Prinzip: Vormachen — nachmachen

Warum entscheiden sich sowenig erfolgreiche TänzerInnen zu einer Ausbildung als Tanzlehrer? Das Gros der Tanzlehrer hatte seine sportlichen Erfolge in den 60er und 70er Jahren. Entsprechend veraltet ist der Unterricht. Manchmal höre ich von verpflichtender Fortbildung. Merken tu' ich davon nichts. Vor allem methodisch liegt einiges im argen. Das schlichte Prinzip: vormachen — nachmachen. Doch wir haben Glück. Unser Tanzlehrer hat mehr auf der Platte. Er tanzt neue und problematische Figuren nicht nur mit den Damen durch, sondern auch mit den Herren. Ein Erlebnis. Er vermittelt mir ein Gefühl, wie ich mich bewegen könnte. Sind die anderen Tanzlehrer zu verklemmt? Personenkult statt Methodenvielfalt?

Unter Breitensportlern

Alle größeren Vereine haben eine „Breitensportabteilung für Hobbytänzer“. Die Frauen sind mit Eifer dabei. Die Männer kommen mit. Hobbytänzer belassen es beim wöchentlichen Übungsabend. Sie üben rund 30 bis 40 Doppelstunden pro Jahr. Dabei werden sie mit mindestens zehn Tänzen bekannt gemacht. Macht pro Jahr für jeden Tanz zwei Doppelstunden. Das führt zwangsläufig zu Pfusch, wenn nicht lediglich bescheidene Grundschritte und einfachste Schrittfolgen Thema sind. Häufig genug ist es anders: Ein Tanzmeister zeigt seinem staunenden Volk, was er alles kann. Er balzt den von der Arbeit erschöpften Damen und Herren idiotisch lange Folgen vor, die er aus seiner aktiven Zeit erinnert. Nie hat mir jemand erklärt, warum es gerade diese Folgen sein müssen. Herrschaftswissen. Einmal gelernt, immer gelehrt.

Grundschritt: Cucarachas, Spinne, bitte schön!

Der Lernertrag ist gering, selbst in Gruppen, die jahrelang bestehen. Das Schüler-Lehrer-Verhältnis bleibt unverändert, auch wenn alle Beteiligten miteinander alt geworden sind. Jeder Abend verläuft gleich. Small talk nach der Begrüßung. Eine Frau fordert zum Anfangen auf. Gottlob, der Meister ist heute gut drauf. Hat er schlechte Laune, macht er uns zur Schnecke. „Rumba ist angesagt, Grundschritt, Alemana, Hand to Hand, Laufschritte gegen Tanzrichtung, Cucarachas, Alemana, offener GS, Laufschritte rückwärts, Alemana, Spinne — bitte schön, meine Damen und Herren, das hatten wir doch schon!“

Heute ist er gnädig: Er tanzt die Chose noch mal vor. Die Abbrecherquote hält er gering, indem er uns am Ende gnädig lobt. Die Beziehung überlagert den Inhalt. Wir fragen uns nicht: „Was haben wir heute gelernt?“, sondern: „Warum tanzt er wieder mit Frau Schulze vor und nicht mit mir? Manch ein Tanzlehrer unterrichtet nicht. Statt dessen fordert er uns auf, zu werden wie er selbst, ohne den Weg dahin zu zeigen: Assoziation und Launen statt System. Das Ziel ist Anpassung.

Von Mund zu Mund

Kann sich das Tanzpaar von seinem Lehrer emanzipieren? Schwerlich. Sein Wort zählt. Es bleibt unhinterfragt, er verkündet ex cathedra. Die evangelische Kirche ist da schon fortschrittlicher, sie bietet neben dem Predigt-Gottesdienst einen Gesprächs-Gottesdienst an.

Ich kenne keine Sportart, kein Hobby, worüber so wenig Literatur existiert. Ist Tanzen Sport, Kunst oder Wissenschaft? Die Stadtbibliothek hat ein paar Einführungen in den Gesellschaftstanz, alles mehr oder minder Variationen auf Hädrichs Standardwerk: Drei Sätze zur Geschichte, zwei über den Rhythmus, fünf Grundschritte mit Skizzen für Autodidakten. So bleibt der Tanzschüler kleinkindhaft fixiert auf seinen Lehrer. Der bringt nur sich selbst ein. Kein Programm, keine Jahresübersicht, keine gedruckte Zeile begleitet seinen Unterricht.

Inspiration statt Erkenntnis

Die Kunst des Bogenschießens veränderte sich innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre mehr als in den viertausend zuvor. Die Mode der Tanzkleider wechselt von Saison zu Saison. Gibt es im Tanzen selber keine Neuerungen? Über die Methodik der Rolle vorwärts finden sich eine Handvoll Abhandlungen. Der Tanzlehrer sucht vergeblich. Er baut auf Erfahrung und Inspiration. In welchen Portionen und auf welchen Wegen Taktgefühl, Haltung und Schritte optimal lehr- und lernbar sind, war bislang keine Untersuchung wert. Diskussionen oder Seminare sind der Elite vorbehalten. Ab und zu wird ein Gott eingeflogen. Prima, lernen durch Faszination!

Aber es geht auch hausbackener: Wir dürfen uns weiterhelfen mit Workshops: „Einhören und Anzählen“, „Strategien gegen Angst und Aggression“, „Vier Wege zum Linkskreisel“, „Was war skandalös am Wiener Walzer“, „Die Ferse beim Tango“.

Face to face

Medien im Tanzunterricht? Fehlanzeige. Eine Spiegelwand im Tanzsaal ist das Größte. Videokamera? Tänzern dient sie gerade mal dazu, Feierlichkeiten festzuhalten. Ihre phantastischen Möglichkeiten: Zeitlupe und -raffer, Bildstand, variable Brennweite, kaum ein Tanzlehrer.

Tanzen hintenan

In den Massenmedien kommt Tanzsport selten vor. Fred Astaire, Ginger Rogers, die Latein-Formation der TSG Bremerhaven und ihr Dauerkampf gegen das TSZ Velbert sind vielen bekannt. „Dirty Dancing“ lief 42 Wochen in den Bremer Kinos, löste aber keinen Boom aus. Doch hohe Einschaltquoten können nicht das Ziel sein — die hat kein Kulturereignis. Ich spreche von Standard und Latein als idealem Ausgleichssport. Es hat kaum Image, und es bekommt keines: Turniere überträgt das Fernsehen nachts. Was am Wochenende vor Ort passiert, melden die Lokalzeitungen tabellarisch am Dienstag. Was bloß läßt das Tanzen so wenig attraktiv scheinen?

Der hörige Tanzsport ist sprachlos

Bis 1967 war die Fähigkeit, bürgerlich tanzen zu können, eine Grundvoraussetzung zum sozialen Aufstieg. Das gilt seit 25 Jahren nicht mehr. Jugendliche tanzen für sich allein. Der Tanzsport ist sprachlos, fand keine Antwort. Modekurse in Mambo und Lambada ersetzen keine moderne Konzeption. In der Subkultur entwickelte sich in den letzten Jahren eine fruchtbare alternative Tanzkultur. Daß Männer sich im ureigensten Interesse anders bewegen sollen als John Wayne, daß Rennfahrer früher sterben als Tänzer, wurde Gemeingut. Doch der Tanzsport profitiert nicht davon, weil er sich kaum veränderte. Immer noch gilt Tanzen als unmännlich.

Neudefinition

Das Bild des gemeinen Tanzsports ist dringend revisionsbedürftig: Steriles Ambiente, monotones Outfit in Frack und Tüll, epigonale Performance in gezirkelten Figuren und Posen. Aufgesetzt wirkt das Ritual des ewigen Lächelns, abstoßend autoritär der Spruch der Wertungsrichter. Klassendenken verhindert Spontaneität und Improvisation, Tabus und Dogmen allüberall. Eine scheußliche Kälte, die keiner wollen kann. Diese abzubauen, ist ohne heftige Diskussion nicht möglich. Nur manchmal grummelt's tief unten: „Bloß nie die negativen Aspekte aufzeigen, nur keine Kritik“, schrieb jemand ironisch auf der Jugendseite des Verbandsorgans.

Modern sein würde heißen, das Individuum zum Mittelpunkt zu machen. Das klingt abstrakt und bedeutet einschneidend viel: Ziel des Tanzes kann es nicht mehr sein, in der Tradition des Drills Regeln einzuüben und Leistungen daran zu messen. Das sind lediglich Hilfsmittel zum Zweck, daß beide Tanzpartner eine Harmonie erfahren, die keine andere Beschäftigung in dieser Intensität bietet. Also: keine Stempel aufdrücken, sondern die natürliche Lust und Begabung zum Tanzen wiederentdecken lassen. Geselligkeit und Regelwerk tragen dazu bei. Stehen sie jedoch im Vordergrund, mißbraucht man das Tanzen. Wir tanzen nicht für Leistung, sondern lieber für uns. Moderner Tanzunterricht hätte zur Aufgabe, dem einzelnen Paar zum Erwerb einer möglichst individuellen Tanzsprache zu verhelfen. Motto: Wage zu tanzen! Erst dann wirkt unser Tanz auch glaubwürdig. Und unser Tanzlehrer? Der motiviert uns und zeigt uns kenntnisreich Wege auf. Mehr nicht. Martin Korol