: Stasi hortete Nazi-Akten
Im Document Center des Ostens, dem ehemaligen Sonderarchiv der Staatssicherheit im Berliner Stadtteil Hohenschönhausen, lagern höchst aufschlußreiche und unerforschte Dokumente aus der Nazizeit, die jetzt der Öffentlichkeit zugänglich sind. Sogar angeblich vernichtete Kranken- und Deportationsberichte der „Euthanasie-Aktion“ tauchen im Archivkeller auf. ■ VONGÖTZALY
Leninallee, Konrad-Wolf-Straße, rechts zweigt die Sandinostraße ab, dann die Simon-Bolivar-Straße, an der Ecke Freienwalderstraße findet sich die Speisegaststätte Effinger. Hier in Berlin-Hohenschönhausen ist ein Teil der alten DDR-Welt noch in Ordnung: Ungarisches Gulasch kostet 4,60 DM, unter „Heißgetränke“ wird eine „Tasse Kaffee, komplett (Koffein)“ für 1,10 DM geboten. Am Ende der Freienwalder Straße hatte die Staatssicherheit ein ganzes Quartier mit Mauern und Stacheldraht abgesperrt. Hier unterhielten die früheren Herren sogenannte Forschungsabteilungen, ein Gefängnis, Aktenlager, hier wurde der Fuhrpark gewartet. Und hier befand sich das Document Center des Ostens, eine bislang völlig unbekannte, aber höchst beunruhigende Sammlung von Akten aus der Nazizeit.
Der Knast steht leer, gelegentlich kommt einer vorbei, um sich bei den Wachposten (aus Rummelsburg übernommene Gefangenenaufseher) eine Bescheinigung „zum Nachweis politischer Verfolgung“ abzuholen. Im Krieg war hier ein großes Zwangsarbeitslager; 1945 errichteten die Sowjets ein — im Stadtteil besser bekanntes — gefürchtetes Internierungslager. Nun soll das Gefängnis renoviert werden, demnächst wieder dem Großberliner Strafvollzug zur Verfügung stehen. Rechterhand residiert als Überbleibsel des alten Zentralstaats noch das Gemeinsame Landeskriminalamt der fünf neuen Bundesländer. An dem Gebäude Nr. 17/19 der Freienwalderstraße prangt die blaue Raute für den Denkmalschutz: Hier hat das Bundesarchiv Koblenz eine Außenstelle errichtet und einen historisch höchst spannenden Teil der Stasi- Hinterlassenschaft übernommen. Wahllos und gezielt hatte die Staatssicherheit in diesem Sonderarchiv seit den 50er Jahren personenbezogene Akten aus den Jahren 1933 bis 1945 gehortet, sie größtenteils aus den NS-Archivalien entnommen, die die Sowjetunion damals zurückgab. Der Rest wurde auf das Parteiarchiv der SED und auf die Staatsarchive verteilt. Zehn Regalkilometer Akten sind hier zusammengetragen worden. Die Materialien aus der Nazizeit blieben bis zur Wende unter Verschluß, wurden für Ermittlungen gegen NS-Verbrecher ausgewertet, für Erpressungen in und außerhalb der DDR, für Kampagnenen gegen die braunen Eliten der BRD und sicher auch, um Strafverfahren zu vereiteln. Die Dokumente sind mit Hilfe einer Kartei —in der die Namen der Täter und der Opfer verzeichnet sind— leicht zu benutzen. In den Karteitrommeln sind rund eine Million Namen verzeichnet. Das Material, das über diese Kartei zu Tage gefördert werden kann, ist weitgehend unbekannt und weder für die Forschung, noch für Wiedergutmachungsansprüche ausgewertet worden.
Stichproben zum „Generalplan-Ost“
Das Archiv ist jedermann, jederfrau zugänglich, noch wird davon wenig Gebrauch gemacht. Ich schreibe Namen auf eine Liste, die ich aus der Arbeit über „Euthanasie“-Verbrechen kenne, die mir aufgefallen sind im Zusammenhang mit dem „Generalplan-Ost“ und der deutschen Besatzungspolitik in Polen. Zu zwei von drei Namen werden einen Tag später Akten vorgelegt, die ich noch nie gesehen habe. Sie fördern unbekannte Details zutage:
Da ist Felix Boesler, Finanzwissenschaftler und Raumplaner, mitbeteiligt am Generalplan-Ost, jenem nazistischen „Aufbauwerk“ zwischen Krim und Leningrad, das unter anderem die kurzfristige Vernichtung von 30 Millionen Menschen vorsah. Boesler schlug vor, diesen „Aufbau“ mit 12,4 Millarden Stunden Zwangsarbeit billiger zu machen und gleichzeitig die dann noch notwendigen Finanzmittel „aus der Wertmasse“ der eroberten Länder herauszupressen. Nach dem Krieg beschäftigte sich Boesler als Finanzexperte der Ostberliner Bauakademie mit dem „Wohnkomplex als Planungselement im Städtebau“ der DDR, bis er sich 1957 als angebliches Opfer des Stalinismus nach Westen absetzte. Dort erwarteten ihn viel Arbeit zur infrastrukturellen Modernisierung der BRD und schließlich eine Fülle von öffentlichen Ehrungen. Aus Boeslers Personalakte in der Freienwalderstraße ergibt sich zusätzlich, daß dieser Mann vor 1933 der „SPD zuneigte“, von 1937 an V-Mann des Nazi-Sicherheitsdienstes an der Universität Königsberg war und daß die SA, die von dieser Tätigkeit selbstverständlich nichts wußte, ihn als den beurteilte, der er wohl immer war und blieb: „Typ eines Konjunkturritters, der sich nur aus egoistischen Gründen wegen seines Fortkommens der SA angeschlossen hat.“
Zum Stichwort „Herbert Linden“ bringen die Archivare das Verfahren gegen Wanda Kallenbach. Der Volksgerichtshof verurteilte sie 1944 wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode. Die unehelich geborene Berliner Industriearbeiterin war schon „nach der Machtübernahme durch ihre judenfreundliche Einstellung aufgefallen“, sie schimpfte auf den Krieg, auf Göring, die Lebensmittelknappheit und die Bomben — „schlechter wie wir es in Berlin haben“, sagte sie zu ihrer späteren Denunziantin, einer Volksdeutschen in der Gegend von Posen, „könnt ihr es in der Polenzeit auch nicht gehabt haben“. Herbert Linden war „ehrenamtlicher Beisitzer“ des Verfahrens, hauptberuflich im Reichsinnenministerium für die „Euthanasie“-Morde zuständig. Das Todessurteil gegen Wanda Kallenbach wurde am 18. August „vorschriftsmäßig vollstreckt“, vergeblich hatte ihr mutiger Hausarzt —Erhard Manowsky— aus freien Stücken versucht, das Gnadengesuch dieser Frau zu unterstützen und ihr „seelische Störungen und Erregungszustände“ attestiert. Am 24. Juli 1944 hatte die 10jährige Tachter Inge noch an ihre inhaftierte Mutter geschrieben: „Du schreibst so lieb und traurig zugleich, wie nur eine Mutter schreiben kann. Wenn ich deinen Brief lese, kommen mir die Tränen. Ich habe dir versprochen, nicht zu weinen. Aber das kann ich nicht. Denn in dem Brief ist lauter Liebe drin, mein süßes Mütterchen.“ Wanda Kallenbach durfte diesen Brief nie mehr lesen, die Leitung des Berliner Frauengefängnisses fand den Inhalt „ungehörig“, klebte den Brief wieder zu und nahm ihn zu den Akten. Dort blieb er 47 Jahre lang verschlossen liegen.
Die Archivare — sie stammen bis auf die Leiterin aus dem alten Personal und rechnen mit ihrer baldigen Entlassung — legen weitere Akten vor: über „Leichenverbrenner“ in den Mordanstalten der „Euthanasie- Aktion“, Verwaltungsakten aus Magdeburg zum gleichen Thema, ein zweibändiges Register, in dem alle Verfahrensbeteiligten der in der Freienwalder Straße gehorteten Volksgerichtshofverfahren aufgeschlüsselt sind. Personalverzeichnisse des Reichssicherheitshauptamtes, ebenso der in der Sowjetunion mordenden Einsatzgruppen. Über den Namen Max de Crinis erschließt sich eine Akte aus dem Reichssicherheitshauptamt, die Spitzelberichte über die Katholische Kirche enthält, über den Einfluß der Kirche auf deutsche Soldaten; die Häufigkeit von Gottesdienst- und „sogar“ Beichtbesuchen sind für eine Kaserne in Traunstein registriert. Ein Wehrmachtsuntersuchungsbericht über Verbrechen im damals erst wenige Wochen besetzten Polen dokumentiert derartig detaillierte und entsetzliche Beschreibungen von Vergewaltigungen, Exekutionen, Plünderungen, daß es sich bis heute verbietet, Teile daraus in einem Zeitungsartikel als Zitatfetzen zu verwenden.
Makabre Sensation im Archivkeller
Im Keller des Hauses in der Freienwalderstraße liegen drei Kubikmeter Krankenberichte. Dieser Bestand ist — auch dann, wenn er noch nicht zugänglich ist, da die früheren Hausherren keinerlei Interesse an der Auswertung entwickelten und die Unterlagen erst geordnet und restauriert werden müssen — eine makabre Sensation. Es handelt sich um Akten, die nach westdeutschen Gerichtserkenntnissen 1945 in einer Papiermühle im österreichischen Lienz komplett vernichtet wurden. Aber sie sind da, jedenfalls zu einem beträchtlichen Teil. Es sind die Kranken- und Deportationsunterlagen jener psychisch Kranken, die 1940 in den Gaskammern von Grafeneck, Brandenburg, Bernburg, Pirna und Hartheim ermordet wurden. Krankenberichte, Fotos, Briefe, dürre Zeugnisse von Menschen, die fast spurlos verschwanden, vielfach einen namenlosen, von niemandem betrauerten, gewaltsamen Tod starben.
Wo in der Freienwalderstraße keine Unterlagen da sind, bedeutet das nicht, daß sie nicht in diesem Archiv waren — ein Teil der Unterlagen ist vor und auch nach der Wiedervereinigung an andere Institutionen abgegeben worden: Die Personalakten der SS-Aufseherinnen von Ravensbrück liegen jetzt in der dortigen Gedenkstätte. Akten der Deutschen Bank sind an die Außenstelle Potsdam des Bundesarchivs abgegeben worden, bis sie von dort — möglicherweise sehr bald — weitertransportiert und mit einiger Wahrscheinlichkeit abermals unzugänglich werden — nach gesamtdeutschem Archivrecht gehören sie eben dem privaten Eigentümer und niemandem sonst. Die Strafakten über den Kriegsverbrecher Theodor Oberländer (unter Adenauer Flüchtlingsminister) liegen ebenfalls nicht mehr in der Freienwalderstraße, sondern beim Kammergericht in Westberlin — der steinalte Völkermörder und Bundesminister a.D., der zu Recht, wenn auch nicht nach lupenreinen Rechtsstaatsprinzipien in Abwesenheit in der DDR verurteilt wurde und deshalb 1960 als Minister zurücktreten mußte, betreibt dort seine Rehabilitierung. Die Akten über Eugen Gerstenmaier, seinerzeit Bundestagspräsident und im Braunbuch der Mitarbeit im Sichheitsdienst der Nazis beschuldigt, liegen jetzt wieder dort, wo er damals Spitzeldienste geleistet haben soll: in der Humboldt- Universität. An die zuständigen Landesarchive überführt wurden in den letzten Monaten zum Beispiel die Akten des Sondergerichts Freiberg, der NS-Polizeipräsidenten in Jena, Gera und Erfurt. Die Akten des Oberfinanzpräsidenten in Stettin, die zahlreiche Unterlagen über die Deportationen der jüdischen Bevölkerung enthalten, liegen jetzt — warum ausgerechnet dort? — im Staatsarchiv Schwerin. Gemessen am Umfang der Dokumentensammlungen in der Freienwalderstraße ist relativ wenig abgegeben worden. Der große Teil der Akten ist an den neuen Standorten weiterhin einsehbar. Allerdings ist zu fragen: Auch wenn es prinzipiell richtig ist, die wirr zusammengeholten Dokumente nach dem Provenienzprinzip dort verfügbar zu machen, wo sie herkommen, so besteht doch die Gefahr, daß die exzellente Kartei dadurch entwertet, die Benutzung der brisanten Materialien schwieriger gemacht wird.
Faschismustheorie der DDR stabilisiert
Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die Stasi-Akten, Jochen Gauck, hat einen Anspruch auf diese Unterlagen geltend gemacht und behauptet, die Nazi-Akten in der Freienwalderstraße seien „Stasi-Akten“, die zu seinem Kompetenzbereich gehörten. Tatsache aber ist, daß es sich um Originalakten aus dem Dritten Reich handelt, die die Staatssicherheit der zivilen Nutzung über viele Jahrzehnte entzogen hat, mit dem alleinigen Ziel, sie weiter als Herrschaftsmittel zu benutzen. Zumindest nebenbei wurde so auch die Faschismustheorie der DDR stabilisiert: Die Forscher konnten sich in Ruhe mit dem faschistischen System und dem Monopolkapital beschäftigen und brauchten sich nicht jene Teile des menschlichen Unterbaus anzusehen, die das Nazireich auch trugen und die jede eindimensionale Faschismustheorie zum Einsturz gebracht hätten — jene widerwärtig schreckliche Mischung aus Denunziation, Spießigkeit und staatlicher Überwachung, aus Fremdenhaß und Besserwisserei, aus deutschen Hand- und Kopfarbeitern, die die ganze Welt erobern und „verbessern“ wollten. Durch die Geheimhaltung dieser Materialien hat es die Staatssicherheit auch vermocht, unangenehme Fragen nach möglichen Kontinuitätslinien gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Das Archiv ist montags bis freitags von 8 bis 15.30 Uhr geöffnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen