: Überwindung der Klassenschranken
■ Die Cholera in Südamerika gefährdet den Neoliberalismus
Überwindung der Klassenschranken Die Cholera in Südamerika gefährdet den Neoliberalismus
Mehrere hunderttausend Kinder sterben jedes Jahr in Peru an vermeidbaren Krankheiten. In den Slums von Brasilien oder Ekuador sieht es kaum anders aus. Doch wenn sich die Gesundheitsminister der Region treffen, dann nicht, um an diesem Zustand etwas zu ändern. Bewegt werden sie, und die öffentliche Meinung der Welt dazu, von den etwas mehr als eintausend Menschen, die in drei Monaten in den Andenstaaten der Cholera zum Opfer gefallen sind.
Gewiß, jedes Seuchenopfer ist eines zuviel. Aber woher kommt die plötzliche Geschäftigkeit? Müssen Regierungen auf den Tropfen der Cholera im Meer des Elends warten, bevor sie die Notwendigkeit vernünftiger Gesundheitsvorsorge und allgemeiner Armutsbekämpfung einsehen? Die tieferen Ursachen der Choleraepidemie sind bekannt. Drastische Sparmaßnahmen, Schockprogramme und Sanierungskahlschläge haben in den 80er Jahren das, was es in Südamerika an Sozialprogrammen gab, zerstört. Bildung, Wohnungsbau, Gesundheit, Arbeitsplatzbeschaffung, Armenunterstützung — all dies fiel weitestgehend den angeblichen Zwängen eines uneinholbaren Weltmarktes zum Opfer, im Glauben, wachsende Massen von Kranken und Ausgehungerten, Wohnungs- und Bildungslosen, Kriminellen und Analphabeten könnten ein Land nicht daran hindern, konkurrenzfähiger zu werden.
Solange aus den von der schönen neuen neoliberalen Welt Ausgeschlossenen nur Straßenkinder, Landbesetzer, Terroristen und Drogenhändler wurden, konnte die Oberschicht das Unübersehbare noch verdrängen. Hinter hohen Mauern, Privatarmeen und dem Bankgeheimnis versteckt, ließ es sich angenehm leben, auch wenn draußen die Slumbewohner an Malaria, Tuberkulose oder Gelbfieber starben. Doch nun geht das nicht mehr. Der Choleraerreger kennt keine Klassenschranken. Das Obst ist verseucht, in den Flüssen lauert der Tod. Sollen Südamerikas Reiche ihre tropischen Früchte nun in Miami kaufen? Ihren Salat aus Kalifornien importieren?
Das neoliberale Rezept — jeder ist sich selbst der Nächste — stößt hier an seine Grenzen. Nun ist die öffentliche Hand gefordert. Bis jetzt fällt dieser aber nicht viel ein. Einige Regierungen besinnen sich zwar auf die Notwendigkeit etwa von Kläranlagen. Doch die Gesundheitsminister, die von einem Treffen zum anderen ihre Stirn in immer tiefere Falten legen, zeigen hilflos auf den kaum aufzuhaltenden Vormarsch der Epidemie und beschränken sich ansonsten auf Appelle an internationale Hilfsorganisationen.
Doch steckt in der Seuche auch eine Chance. Die gesammelte Korruption und Inkompetenz, die in den lateinamerikanischen Ministerien sitzt, muß sich etwas einfallen lassen. Sonst kämen Lateinamerikas Finanzjongleure und Millionäre ja womöglich auf die Idee, ihr Verbleiben im Lande vom Zustand des jeweiligen Gesundheitswesens abhängig zu machen. Für einen Kontinent, der gegenwärtig nur auf Dollarbilanzen achtet, wäre schon dies eine kleine Revolution. Dominic Johnson
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen