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Überfüllung der Wohnräume größter Krebsschaden

■ Früher wohnten die Ärmsten in dunklen und feuchten Kellern, heute fehlen 170.000 Wohnungen/ Geschichte der Berliner Wohnungsnöte in der TU

Berlin. Wohnungselend in Berlin, 1909: Fast jeder Berliner lebt in einer Wohnung, die kein oder nur ein heizbares Zimmer hat. »Man ißt, trinkt, schläft und stirbt in dem einen Raum, in welchem sich auch die Kinder tummeln sollen und in welchem man Besuche empfängt«, schrieb der Wohnreformer Hans Rost.

Wohnungsnot in Berlin, 1991: Es fehlen — laut Statistik — 170.000 oder mehr Wohnungen. Wer auf dem freien Markt eine Wohnung ergattern will, muß sich gegen Dutzende anderer Bewerber durchsetzen, bei den Wohnungsämtern stapeln sich die Anträge. Die Vorzeichen haben sich geändert, die Vision einer besseren, sozial gerechteren Stadt und einer entsprechenden Architektur aber zieht sich durch die Geschichte.

»Die Überfüllung der Wohnräume«, schrieb Rost, »ist ohne Zweifel der größte Krebsschaden in der ganzen Wohnungsfrage.« Heinrich Zille hat diese Zustände in seinen Zeichnungen drastisch geschildert. Besonders in den Kleinwohnungen war die sogenannte »Wohndichtigkeit« besonders hoch. Das besserte sich gegen Ende der Kaiserzeit ein wenig, allerdings konstatierte der Liberale Friedrich Naumann: »Die Krankheit »Wohnungsnot« hat etwas an Intensität verloren, indem sie sich gleichzeitig fast über ein halbes Volk ausgedehnt hat.«

Der Schauplatz dieser Krankheit war hauptsächlich die Mietskaserne. Hinter den reich ornamentierten Straßenfronten verteilte sich das Wohnungselend noch einmal horizontal und vertikal: Die Ärmsten wohnten in den feuchten, dunklen Kellerwohnungen oder unter dem Dach, wo im Winter kaum zu heizen war und sich im Sommer die Hitze staute. Die Hälfte aller Berliner Wohnungen um die Jahrhundertwende waren Hinterhofwohnungen. Die Mietskasernen, so Heinrich Zille 1919, sind »eine Welt für sich, die man bekämpft, aber nicht heilt«. Viele Reformer bekämpften sie als Hauptärgernis, die Wohnungsnot in der Weimarer Republik aber verhinderte ihren Abriß.

Die Alternative zur Mietskaserne waren die neuen Siedlungen und Wohnanlagen am Rande der Stadt. Sie bedeuteten aber nicht nur Licht, Luft und Sonne für alle, sondern auch die endlose Reihung gleicher Einheiten. Die soziale Gleichheit schien im Reihenhaus am konsequentesten verwirklicht. Das Ganze hatte nur einen Haken: Die neuen Wohnungen waren zwar für die Arbeiter gebaut worden, wurden aber von der Mittelschicht bewohnt. Die Rede von den Arbeitersiedlungen der zwanziger Jahre ist eine Legende.

Die Bomben des Zweiten Weltkrieges machten es den Städteplanern möglich, mit dem verhaßten System der Mietskasernen Schluß zu machen. In den fünfziger Jahren wurden in West-Berlin auch nichtzerstörte Mietshäuser der Kaiserzeit abgerissen, etwa im Hansaviertel. Das wurde dann ab 1963 systematisch betrieben. 56.000 Wohnungen wurden kahlschlagsaniert. Die Wohnungsnot der sechziger Jahre, der Berlin die Großsiedlungen Märkisches Viertel und Gropiusstadt verdankt, war also zum Teil hausgemacht. Diese Großsiedlungen wurden nun in gewisser Weise zu den Nachfolgern der ungeliebten Mietskasernen. Wurden damals die Mietshäuser als menschenunwürdige Behausungen kritisiert, so haben die Hochhaussiedlungen sie abgelöst. Das Schlimme: Sie scheinen kaum nachbesserbar zu sein. So haben sich die früheren Abrißgelüste heute auf das Märkische Viertel oder Gropiusstadt verlagert. Das meistgehaßte Wohnviertel liegt allerdings im Osten: Marzahn ist das krasseste Beispiel schematischer Gleichmacherei des Wohnens.

Heute spricht niemand mehr von Wohnungselend, sondern »nur« noch von Wohnungsnot. Doch um noch einmal Friedrich Naumann aus seiner Schrift Die Wohnungsnot in unserer Zeit zu zitieren: »Der Trost, daß es früher noch schlimmer war, ist bei allen Krankheiten nur ein mäßiger Trost...« Er schrieb dies im Jahre 1904. kap

Der vorliegende Artikel verwendet Elemente eines Vortrags von Dr. Harald Bodenschatz, Institut für Stadt- und Regionalplanung, TU Berlin, anläßlich der Fachbereichstagung Wohnungsnot an der TU (heute zweiter Tag).

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