: Ein aufgeklärter Sklavenaufseher
Die Tagebücher des Thomas Thistlewood aus dem Archiv von Lincoln ■ Von Heide Gerstenberger
Im Archiv von Lincoln, Lincolnshire, lagert ein Manuskript aus dem 18. Jahrhundert, das etwa 10.000 Seiten umfaßt. Es sind die Tagebuchaufzeichnungen des 1721 geborenen Thomas Thistlewood. Er war der Sohn eines Farmers, der zur Schule geschickt worden war. Nachdem er bei einem Onkel eine Art landwirtschaftlicher Lehre absolviert und sich einige Jahre als Viehhändler durchgebracht hatte, heuerte er 1746 auf einem Schiff der Ostindien-Gesellschaft an. Um diese Zeit begann Thistlewood damit, die Ereignisse seines Lebens und Neuigkeiten, die ihm sonst wichtig erschienen, aufzuzeichnen. Mit der Zeit muß ihm diese Gewohnheit in Fleisch und Blut übergegangen sein, denn bis fast zum allerletzten Tag seines Lebens behielt er sie bei.
8 Schillinge für eine Perücke und 1 Schilling für Hamlet
Die Veröffentlichung, die Douglas Hall besorgt hat, enthält nur wenige Ausschnitte aus den Jugendjahren. Sie informieren uns darüber, daß Thomas Thistlewood, als er von seiner Schiffsreise zurück war, 1Pfund und 2 Schillinge für eine Perücke ausgab, etwas über 8 Schillinge für zwei Paar Socken und 1Schilling, um im Schauspielhaus an der Drury Lane Hamlet zu sehen. Er sah auch The Beggars Opera und kaufte sich die von Hamilton verfaßte Geschichte Ostindiens. Schon damals hatte er die Gewohnheit, ins Lateinische zu verfallen, wenn er notierte, wieviel Geld er für den Besuch bei einer Prostituierten ausgegeben hatte. Auch die später so wichtige Praxis, alle Hausrezepte zu notieren, die er ausprobiert oder von denen er gehört hatte, wurde damals schon begründet: „Zweimaliges Einnehmen von bitteren Äpfeln, die in Bier gekocht werden, soll mit Sicherheit zum Abort führen.“
Nach dem Beischlaf: „sed non bene“
Als sich herausstellte, daß er zu Hause kaum Aussichten hatte, sein Glück zu machen, kam er auf die Idee, nach Jamaika auszuwandern. Er besorgte sich Empfehlungsschreiben und startete — mit etwas über 14 Pfund an barem Geld — im Februar 1749 zu seiner Reise in die englische Kolonie Jamaika. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die Aufzeichnungen von Thistlewood zwar ein seltener Fund, aber noch keine Sensation. Dazu werden sie erst durch Thistlewoods Tätigkeit auf Jamaika. Viele Jahre lang verdiente er seinen Unterhalt als Sklavenaufseher. Später wurde er zum Besitzer eines kleinen Anwesens sowie eigener Sklavinnen und Sklaven. Während all dieser Zeit, von 1750 bis 1786, schrieb er auf, zu welcher Arbeit er die ihm unterstellten Frauen und Männer tagtäglich einteilte, was um ihn herum passierte, was er las und wie sonst er sich vergnügte. Es handelt sich nicht um ein Tagebuch im modernen Sinne, selten vermerkt der Schreiber eigene Gemütszustände oder Überlegungen, aber um so aufschlußreicher sind gerade deshalb seine Eintragungen. Die Organisation der Arbeit auf der Plantage läßt sich aus Thistlewoods Blättern gut erschließen, sehr bald wird auch deutlich, in welch hohem Maße der neue Aufseher auf die Kenntnisse der Frauen und Männer, die er beaufsichtigte, angewiesen war. Sie lehrten ihn die Namen von Pflanzen und Tieren, die Verwendung einheimischer Gemüse und die Benutzung bestimmter Kräuter im Falle von Krankheiten. Die Frauen konnten sich ihm zwar nicht verweigern, wenn er sexuellen Gebrauch von ihnen machen wollte, aber sie konnten dafür sorgen, daß er anschließend notierte: „sed non bene“. War dies der Fall, fehlt der Hinweis auf das Geschenk, das er sonst nach einem Beischlaf regelmäßig vermerkte.
Thistlewoods Tagebuch verdeutlicht, daß es auf Jamaika auch eine eigenständige Kultur der versklavten Menschen gab und daß die zahlenmäßig sehr viel geringere weiße Bevölkerung die Sklavinnen und Sklaven nicht lediglich beherrschen konnte, sondern sich in gewisser Weise auch mit ihnen arrangieren mußte. Eine der Voraussetzungen für diese Entwicklungen des kulturellen Zusammenhangs der Sklavengesellschaft war die relativ große Bewegungsfreiheit versklavter Männer und Frauen. Zwar mußten sie — zumindest formell — jeweils eine Bescheinigung bei sich tragen, wenn sie unterwegs waren, um für ihre Herrschaft oder für sich selbst Handel zu treiben, um entlaufene Mitsklaven zu suchen, um Nachrichten oder Produkte zu anderen Plantagen zu bringen oder um Freundinnen und Freunde zu treffen, aber solche Bescheinigungen wurden von Thistlewood und anderen Aufsehern in großer Zahl und regelmäßig ausgestellt. Häufig beauftragte Thistlewood Sklavinnen, Produkte der Plantage zu vermarkten, und notierte anerkennend, wenn sich einzelne Frauen als besonders geschäftstüchtig erwiesen hatten. Manchmal wurden junge Sklavenmädchen auf andere Plantagen oder in die Stadt geschickt, damit ihnen eine besonders geschickte Haussklavin das Nähen beibringe.
Ein Zuchtmeister „not for play“
Dem Interesse des Autors an Krankheiten und an Heilmethoden verdanken wir die Erkenntnis, daß die Bevölkerung von Jamaika nicht nur in materieller und kultureller Hinsicht miteinander verkettet, sondern auch eine Gemeinschaft im Fleische war. Kamen junge Männer neu auf die Insel, dauerte es nicht lange, bis sie in diese Lebens- und Leidensgemeinschaft initiiert wurden. Denn sie alle holten sich in mehr oder minder regelmäßigen Abständen den Tripper und gaben ihn dann an ihre Ehefrauen weiter. Da Gäste sich regelmäßig Sklavenmädchen aussuchten, verbreitete sich die Krankheit zwischen den Plantagen. Verkäufe und Vermietungen versklavter Menschen taten ein übriges, und auch innerhalb einer Plantage schaffte es ein Aufseher oder Besitzer wie Thistlewood, daß die etwa noch gesunden Frauen und über diese dann auch die Männer angesteckt wurden. Immer neue Heilmethoden wurden ausprobiert. Ihre Wirkung war ein wichtiges Gesprächsthema in Seiner Majestät Kolonie Jamaika.
Während langer Jahre lebt Thistlewood die meiste Zeit des Jahres allein unter Sklavinnen und Sklaven. Er war ein gestrenger Herr. Als er später im Leben hörte, daß seine eigenen Sklaven ihn den „not for play“ nannten, notiert er das offensichtlich mit Befriedigung. Die Züchtigungen, die Männer und Frauen von ihm zu gewärtigen hatten, wenn sie entlaufen waren, sich widerspenstig oder nachlässig gezeigt hatten, waren aber nicht nur hart, sondern oft auch sadistisch. Am 30. Juli 1756 heißt es beispielsweise: „Punch wurde am Salt River aufgegriffen und nach Hause gebracht. Ich gab ihm und Quacoo die Peitsche und rieb anschließend Salz, Zitronensaft und Pfeffer in ihre Wunden. Ich peitschte auch Hector, der seine Hacke verloren hatte, und hieß Neger Joe, ihm in die Augen und in den Mund zu pissen.“ Dennoch muß er einer der erträglicheren unter den Aufsehern gewesen sein. Als sich 1760 Sklaven gegen ihre Eigentümer erhoben, machte sich nur einer der Männer von „Egypt“ davon, um sich an „Tacky's Rebellion“ zu beteiligen. Thistlewood stellte damals (Sklaven-)Wachen auf, damit herannahende Aufständische rechtzeitig bemerkt würden. Eindrucksvoller als diese Stabilität seines Regiments in unruhigen Zeiten ist die Tatsache, daß ihn nicht wenige der Männer und Frauen, die auf „Egypt“ unter ihm gearbeitet hatten, später an anderen Arbeitsstellen besuchen kamen.
Der Mietkauf einer Sklavin und der Freikauf seines Sohns
Zu einer unter diesen Besucherinnen hatte Thistlewood allerdings ein besonderes Verhältnis. Während sich bis in seine letzten Lebensjahre Eintragungen von der Sorte „cum Sabina, Sup. seat, in Parv. Domo“ finden, entwickelte er andererseits auch längerfristige emotionale Bindungen zu einzelnen Sklavinnnen. Eine dieser Frauen hatte einen Sohn von ihm, den er nach dem Ende der Beziehung freikaufte und später zu sich nahm. Aber aus der Bindung zu Phibbah, die in „Egypt“ begann, entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Liebesgeschichte und dann eine informelle Ehe, die bis zu Thistlewoods Tod dauern sollte: annähernd dreißig Jahre. Als Thistlewood seinen Arbeitsplatz wechselte, konnte er seinen früheren Herrn zunächst nicht dazu bewegen, ihm Phibbah mietweise zu überlassn. So kam sie ihn sonntags besuchen, gelegentlich ritt er auch nach „Egypt“, um sie zu sehen. Dazwischen sandten sie sich, wann immer sich eine Gelegenheit bot, kleine Geschenke. Im Juni 1757 heißt es: „Morgens gegen 8 Uhr kamen der kleine Quashe und Dover von ,Egypt‘. Sie hatten ein Maultier dabei. Sie brachten mir einen feinen Truthahn und achtzehn Krabben von Phibbah. Quashe sagte, sie sei krank. Das tut mir wirklich leid. Armes Mädchen, ich bedaure sie, denn sie lebt in elender Sklaverei.“
Erst als Phibbah älter geworden war und er mehr Geld anbieten konnte, gelang es ihm, sie für 18 Pfund im Jahr zu mieten und zu sich zu nehmen. Damals lebte auch John, sein Sohn, bei ihm. John muß für Thistlewood eine Enttäuschung gewesen sein, denn er verweigerte sich den ernsthaften Bemühungen seines Vaters, ihm Bildung zukommen zu lassen. Schon die Geschichte von Reynard dem Fuchs und Reynardine seinem Sohn, die der Vater zusammen mit Berichten über Benjamin Franklins Experimente, The Life and Opinion of Tristram Shandy, Gentleman, mit Büchern von Racine, Voltaire und vielen anderen hatte kommen lassen, stieß auf kein Interesse, und auch späterhin lief John aus Schule und Lehre davon. Er erhielt die Peitsche, wurde in das Strafverlies auf der Plantage gesperrt und gebunden an den Ort seiner Pflicht zurückgebracht.
Kurz: Er war ein bemerkenswerter Repräsentant jener Geistesströmung, die unter dem Terminus Aufklärung bekannt geworden ist.
Der Lebenslauf des Thomas Thistlewood auf Jamaika, sein Erfolg als Züchter von Gemüse und Blumen, sein Aufstieg in der Siedlergesellschaft (er wurde zum Friedensrichter ernannt) und sein nahezu vollständiger materieller Ruin durch zwei verheerende Hurricans ist hier nicht zu schildern. So spannend der Bericht über sein Leben auch ist, die eigentliche Sensation dieser Tagebuchblätter liegt in der innigen Verbindung von Verhaltensweisen, die HistorikerInnen zumeist als einander ausschließende behandeln. Thistlewood las alles, was er an juristischen, medizinischen, naturwissenschaftlichen, historischen und philosophischen Arbeiten in die Finger bekommen konnte, er experimentierte als Naturheilkundler und als Pflanzenzüchter, kurz, er war ein bemerkenswerter Repräsentant jener Geistesströmung, die unter dem Terminus Aufklärung bekanntgeworden ist. Gleichzeitig verrichtete er mit großer Selbstverständlichkeit die Tätigkeit eines Sklavenaufsehers. Zwar sah er in den Frauen und Männern, die er kommandierte, durchaus Lebewesen, und einzelnen brachte er so etwas wie Achtung entgegen. Als er hörte, Quashe, der auf „Egypt“ unter ihm gedient hatte, sei gestorben, schrieb er sich auf: „Er war sensibel und geschickt und auch ehrlich und vertrauenswürdig.“ Als Sklavenbesitzer gab er allen seinen Sklaven frei, damit sie sich ein Pferderennen anschauen konnten, nicht selten stiftete er Bretter, wenn Sklaveneltern nicht die Mittel hatten, den Sarg für ein totes Kind zu beschaffen, aber er peitschte auch eigenhändig alle seine Sklaven, die er zum Roden in die Wälder geschickt hatte, weil sie seiner Ansicht nach bei dieser Tätigkeit zu viel Zeit vertrödelt hatten. Dazwischen las er Adam Smiths Untersuchung über den Wohlstand der Nationen.
Seitdem Phibbah zu ihm gekommen war, hatte er mit ihr gelebt. Sie tauchte nicht mehr als eine der lateinischen Episoden in seinen Blättern auf, statt dessen vermerkte er gelegentlich, daß sie sich ihm verweigerte. Phibbah hatte eigene Ansichten, sie tätigte — mit bemerkenswertem Erfolg — eigene Geschäfte, und sie hatte einen eigenen Freundeskreis. Sonntags, wenn Frauen, Männer und Kinder, die auf anderen Plantagen als Sklaven und Sklavinnen lebten, zu Phibbah auf Besuch kamen, führte ihnen Thistlewood gelegentlich die Bilder seiner Laterna magica vor. Vermutlich war seine Beziehung zu Phibbah kameradschaftlicher als sehr viele Ehen zwischen Freien und Weißen auf Jamaika. Und doch legte Thistlewood in seinem Testament fest, daß Phibbah ihre Freiheit nur unter der Bedingung erhalten solle, daß diese für 80 Pfund zu erstehen sei (der Rest seines Vermögens sollte an seine Familie in England gehen). Der Herausgeber konnte feststellen, daß dieser Betrag tatsächlich ausreichte. Am 26. November 1792, sechs Tage nach Thistlewoods Tod, wurde Phibbah frei.
Douglas Hall (Hrsg.), In Miserable Slavery. Thomas Thistlewood in Jamaica, 1750-1786, Macmillan Publishers, London&Basingstoke 1990, 10.95 Pfund
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