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Kuhpocken bei Aids-Patienten?

Die Impfstoffexperimente des Pariser Professors Daniel Zagury werden heftig kritisiert/ Die Vakzine sollen nicht ausreichend inaktiviert worden sein/ Der französische Aids-Papst Luc Montagnier fordert einen sofortigen Abbruch der Experimente  ■ Aus Paris Bettina Kabs

Unzählige Forscher jagen nach einem Impfstoff gegen Aids hinterher, als Belohnung locken Ruhm und Geld. Im Gerangel mit den Konkurrenten drohen ethische Grenzen überschritten zu werden. Die Impfstoffexperimente des französischen Professors Daniel Zagury vom Pariser Krankenhaus Saint-Antoine haben nun die Pariser Zeitung 'Le Monde‘ alarmiert. Sie behauptet, Zagury habe mehrere Empfehlungen des französischen Ethikkomitees verletzt. Zudem seien mindestens zwei seiner Patienten während der Experimente an Kuhpocken erkrankt und kurz darauf gestorben, was Zagury monatelang verschwiegen habe. Zagury hat bisher alle Vorwürfe zurückgewiesen. Die Verstorbenen hätten sich bereits im Endstadium der Krankheit befunden und seien nur „aus Mitleid“ von ihm behandelt worden, behauptet er.

Dermatologen entdecken seltsame Veränderungen

Im Sommer 1989 begann Zagury seine Versuchsreihe an 14 Aids-erkrankten Personen. Aus humanitären Gründen seien später fünf weitere Patienten mit einem weit fortgeschrittenen Krankheitsbild dazugekommen.

Für die Immuntherapie wurden von Zagury und seinen Mitarbeitern Lymphozyten aus dem Blut der Kranken entnommen und mit einem Kuhpockenvirus infiziert, der üblicherweise zur Pockenimpfung verwandt wird. Zagury griff auf das Kuhpockenvirus zurück, weil es die Reaktion des Immunsystems erhöht. Anschließend wurde das Virus durch Paraformaldehyd neutralisiert und die Zellen wieder dem jeweiligen Patienten injiziert. Zagury hatte die Therapie zuvor bei Affen und an sich selbst ausprobiert.

Die Forschergruppe berichtete in der britischen Ärztezeitschrift 'The Lancet‘ vom Juli 1990, daß nach acht Monaten bereits größere Unterschiede zwischen der Testgruppe und einer nicht behandelten Kontrollgruppe festzustellen waren. Keiner der Testpatienten sei gestorben oder habe opportunistische Infektionen entwickelt. Dagegen sei in der mit den Impfstoffen behandelten Gruppe ein Kranker gestorben.

Laut 'Le Monde‘ verschwieg Zagury, daß aber zu diesem Zeitpunkt bereits zwei der fünf aufgenommenen Patienten gestorben waren, die er nachträglich „aus Mitleid“ behandelt hatte; ein dritter starb einige Monate später. Bei diesen drei Personen waren kurz vor dem Tod seltsame Hautveränderungen aufgetreten. Die Dermatologen konnten sich das nicht erklären. Rein zufällig las der Hautarzt Jean-Claude Guillaume in 'Lancet‘ den Bericht über die neue Immuntherapie mit dem Kuhpockenvirus und erkannte daraufhin, daß die Hautverletzungen des Verstorbenen typisch für eine Kuhpockeninfektion waren, die diese Impfung auslösen kann. Solche Komplikationen drohen insbesondere, wenn Gegenanzeigen — wie Immunschwächen — nicht berücksichtigt werden. Kuhpocken, eine Viruskrankheit, die zum Gewebetod der Haut führt, sind heute weitgehend ausgerottet. Wenn die Krankheit ausbricht, ist sie jedoch fast immer tödlich.

Der Dermatologe Guillaume benachrichtigte sofort die Forscher im Saint-Antoine-Hospital. Daraufhin wurden in der Haut von zwei der drei Verstorbenen Kuhpocken analysiert. Zudem entdeckten die Ärzte bei einem Kranken eine Hautverletzung am Hals, also weit entfernt von der Injektionsstelle.

Professor Zagury ist bis heute davon überzeugt, daß seine Impfungen zur Inaktivierung des Kuhpockenvirus absolut sicher ist. Nach seiner Ansicht gibt es auch keine Anhaltspunkte für einen Ausbruch von Kuhpocken. Vielleicht handelt es sich um eine Herpes oder ein Karposi-Syndrom , sagte er in einem Interview mit 'Libration‘. „Das diese Patienten immunologische Reaktionen gegen Kuhpocken aufwiesen, wie zum Beweis der Diagnose vorgebracht wurde, ist nicht überraschend, da sie doch im Rahmen meines Experiments inaktivierten Kuhpockenimpfstoff erhielten.“ Um die Hautverletzungen zu vermeiden, stellte sein Team die intramuskulären und subcutanen Injektionen ein und arbeitet seither nur noch mit intravenösen Injektionen.

Eine Ansteckungsgefahr für andere Patienten mit einem geschwächtem Immunsystem ist laut Zagury ausgeschlossen: „Das ist absurd. Es besteht keinerlei Risiko. Die Kuhpocken sind keine Pocken und können sich selbst bei Aids-Kranken nicht in Pocken verwandeln.“ Hingegen hält es ein Straßburger Professor für möglich, daß immungeschwächte Patienten die Krankheit durchaus entwickeln können, wenn sie mit pockengeimpften Personen in Kontakt kommen. In den Vereinigten Staaten soll es solche Fälle bereits gegeben haben.

'Le Monde‘ ist jedenfalls überzeugt, daß Zagurys Immuntherapie nicht ungefährlich ist, weil die Herstellung des Impfstoffes nicht 100prozentig garantiere, daß der Kuhpockenvirus völlig inaktiviert sei. Daher könnten die Testpersonen sogar zu Ansteckungsherden werden. Die Zeitung beruft sich auf den Dermatologen Guillaume, der von einer Fortsetzung des Impfstoffexperiments bei Aids-Kranken abrät.

Unterdessen erklärte Zagury, er sei ein Opfer von Intrigen geworden, die dramatische Folgen haben könnten, „weil sie die Wissenschaftler und ihre äußerst vielversprechenden Forschungen blockieren. Wenn diese Forschungen nicht gemacht werden, betrifft das das Leben von Tausenden Aids-Kranken in Frankreich und Millionen Aids-Kranken in der Welt.“ Inzwischen räumte er allerdings ein, daß es im Verlauf seiner Immuntherapie „Unfälle“ gegeben und das Vorgehen daraufhin „verbessert“ worden sei.

Eine Mitarbeiterin seines Forschungsteams gab sogar zu, daß der verwendete Impfstoff „in seiner derzeitigen Form wahrscheinlich gefährlich ist für einen Kranken, der keine Immunabwehr mehr besitzt“. Eine Analyse über den Krankheitsverlauf bei den drei verstorbenen Aids-Patienten soll nach Angaben von Zagury im Juli im 'Journal of Aids‘ veröffentlicht werden.

'Chicago Tribune‘ rollte den Fall bereits auf

'Le Monde‘ befürchtet, daß die Experimente Zagurys die Glaubwürdigkeit der in Frankreich unternommenen Versuche sowie die ethischen Bedingungen in Frage stellt, unter denen Experimente an Lebenden gemacht werden. Ein französisches Gesetz aus dem Jahr 1988 verlangt, daß alle Versuche an Menschen zunächst von einem Ethikkomitee befürwortet werden müssen. Im Fall Zagury äußerte sich das Komitee jedoch nicht zur Therapie selbst. Dazu hätte es angeblich auch gar nicht die nötige Kompetenz, hieß es im Saint- Antoine-Hospital. Das Ethikkomitee müsse vor allem überprüfen, ob die Patienten angemessen aufgeklärt und wirklich mit den Experimenten einverstanden seien. Das bedeutet jedoch, daß die Forscher über Notwendigkeit und Gefahr ihrer Methoden allein entscheiden.

Vielleicht ist es doch ganz gut, daß der Wettkampf um ein Mittel gegen Aids so hart geführt wird: Wenn das Ethikkomitee schon versagt, sind wenigstens die Kollegen offensichtlich daran interessiert, Fahrlässigkeiten aufzudecken. Zwei Tage vor 'Le Monde‘ rollte bereits die 'Chicago Tribune‘ den Fall Zagury auf. Der Autor des Artikels zählt zum Lager der Gegner des amerikanischen Aids-Forschers Robert Gallo. Gallo wiederum ist mit Zagury befreundet und hat auch dessen Forschungsbericht in 'The Lancet‘ mitunterzeichnet. Möglicherweise wollte die 'Chicago Tribune‘ über Zagury Gallo eins auswischen.

Kein Wunder also, daß sich in Paris sofort Professor Luc Montagnier vom Pasteur-Institut, zu Wort gemeldet hat. Montagnier und Gallo streiten sich nämlich seit Jahren heftig darüber, wer den Aids-Erreger entdeckt hat, und wer an dieser Entdeckung verdienen darf. Es war ebenfalls die 'Chicago Tribune‘, die Gallo zuerst vorgeworfen hatte, er habe das neuentdeckte HIV-Virus aus dem Pariser Pasteur-Labor bewußt oder unbewußt als Produkt seines eigenen Labors ausgegeben. Montagnier forderte das Pariser Gesundheitsministerium auf, die sofortige Einstellung von Zagurys Versuchen anzuordnen. Das Ministerium hat unterdessen die Nationale Agentur für Aids-Forschung beauftragt, die Impfstoffexperimente zu überprüfen und über deren Fortsetzung zu beraten.

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