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Trotz High-Tech bleibt die Arbeit gefährlich

■ Arbeitsschutzbestimmungen werden nicht überall eingehalten/ Asthma- und Asbesterkrankungen häufen sich

Berlin. Orangerot schießt das flüssige Eisen in den bauchigen Stahlbehälter. »Ohne mir läuft hier nüscht!« dringt die Stimme des 49jährigen Arbeiters Henri Kunzel durch den ohrenbetäubenden Lärm. Als Gattierer ist es seine Aufgabe, die Ausgangsstoffe zusammenzustellen, die miteinander zu Gußeisenlegierungen verschmelzen — dieser Arbeitsgang ist nun erledigt, jetzt kann die Schmelze in der gewünschten Form abgestochen werden. Kunzel wischt sich mit seinem Taschentuch zufrieden den Schweiß von der Stirn. Seine Arbeit ist nicht ungefährlich: Leicht können Spritzer der glühenden Flüssigkeit danebengehen und den Arbeiter treffen — Verbrennungen wären die Folge.

Sechs Arbeitsunfälle passierten bereits in den ersten drei Monaten dieses Jahres in der Ostberliner VEM-Gießerei und Maschinenbau GmbH, in der Kunzel arbeitet. Im Vergleich zu den Vorjahren (1988: 58 Arbeitsunfälle, 1990 nur noch 35 Arbeitsunfälle) zeichnet sich ein erheblicher Rückgang ab. Der 1990 in eine GmbH umgewandelte Betrieb hat Glück gehabt: Die seit 1988 laufende Modernisierung wurde mit der Wende nicht gestoppt und trägt deutlich zum Schutz der Arbeiter bei.

Für viele andere Ostberliner Betriebe sieht es nicht so rosig aus. Nach der Wende erstmals veröffentlichte Ergebnisse zeigten, so Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), daß gesetzliche Arbeitsschutzregelungen in der ehemaligen DDR nur teilweise umgesetzt wurden. 1989 litt jeder siebte Ostberliner Berufstätige unter Arbeitsbedingungen, die Gesundheitsschäden erwarten lassen. Gemeldet wurden damals 17.000 Arbeitsunfälle und 400 Krankheitsfälle; die meisten litten unter körperlicher Schwerarbeit, gehörschädigendem Lärm und der Einwirkung chemischer Schadstoffe. Gehäuft traten Erkrankungen der Haut und der Atemwege auf, aktuelle Zahlen gibt es bislang jedoch noch nicht.

Die Luft in der riesigen Halle der Ostberliner Gießerei ist schwer und stickig. Dicker Ruß klebt an den Wänden, ein Sicherungskasten an der Wand ist nur notdürftig abgedeckt. Viele Arbeiter nutzen die Zeit, um in den kurzen Arbeitspausen einen hastigen Zug von der Zigarette zu nehmen. Chronische Bronchitis und langwierige Herzerkrankungen, erzählt die 53jährige Betriebsärztin Lydia Georgiew, seien Diagnosen, die sie im Laufe ihrer 21jährigen Berufstätigkeit oft stellen mußte. »Natürlich werden mit verbesserten Technologien auch die Arbeitsbedingungen besser«, meint sie. Die Beschwerden der Arbeiter hätten jedoch noch nicht entscheidend abgenommen.

Doch auch die Westberliner Betriebe können sich trotz verschärfter Arbeitsschutz- und Sicherheitsvorschriften nicht gerade mit Lorbeeren schmücken: Nachdem die Zahl der tödlichen Unfälle in den letzten vier Jahren kontinuierlich von 16 auf acht abgenommen hatte, so Stahmer, erreichte sie 1990 wieder den alten Stand. Falscheinschätzungen und leichtsinniges Verhalten führten immer wieder zu schwersten Unfällen. Gegen verantwortliche Firmen- und Bauleiter mußte deshalb in mehreren Fällen Strafanzeige erstattet werden. Verstöße gegen Arbeitszeitvorschriften sowie Mängel im sicherheitstechnischen Bereich und im Umgang mit Gefahrstoffen seien im Westteil der Stadt weiterhin eklatant. Besorgniserregend sei auch die Zunahme der Asbest- und Asthmaerkrankungen. Ursache der Asbesterkrankungen seien die mangelhaften arbeitshygienischen Verhältnisse der Zeit um 1970, während die berufsbedingten Asthmaerkrankungen auf die zunehmende Bedeutung chemischer und allergener Einflüsse in den gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen zurückzuführen seien. Hauterkrankungen stehen jedoch auch in West-Berlin an erster Stelle.

Vergleiche zwischen Ost und West lassen sich nicht ziehen, da das jeweilig erfaßte Datenmaterial nach unterschiedlichen Kriterien und Voraussetzungen erstellt wurde. Danach ist beispielsweise die Unfallhäufigkeit in Ostberliner Betrieben wesentlich geringer als im Westteil der Stadt, was der Abteilungsleiter für Arbeitsschutz in der Sozialverwaltung, Norbert Fuhrmann, nicht ganz glauben mag. Einheitliche Arbeitsschutzregelungen für Gesamt- Berlin gibt es erst seit Oktober 1990, eine aktuelle statistische Bewertung für ganz Berlin ist voraussichtlich erst im nächsten Jahr möglich. Zur Förderung von Arbeitsschutzmaßnahmen in den neuen Ländern habe das Bundesarbeitsministerium 1991 rund 4 Millionen Mark bereitgestellt, teilte die Senatorin mit, »ein lächerlicher Betrag«. Nach einem Sozialreport der ehemaligen DDR habe bereits 1970 der Sanierungsbedarf für Betriebe rund 80 Millionen Ostmark betragen. Für Berlin hofft Stahmer deshalb, Arbeitsschutzmaßnahmen mit Umweltschutzmitteln fördern zu können.

Auf dem 49jährigen Gattierer Kunzel lastet jedoch weniger der Druck schlechter Arbeitsbedingungen als vielmehr existentielle Sorgen: Nachdem die Ostberliner Gießerei in den letzten Monaten bereits von über 600 auf rund 460 Beschäftigte schrumpfte, sollen bis zum Sommer mindestens weitere 180 entlassen werden. Zwar gehört Kunzel nicht zu den 160 Leuten »auf Null- Kurzarbeit«, kurzarbeiten muß er trotzdem. Martina Habersetzer

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