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Istanbulische Sanftheit

■ »Türkei literarisch« — Lesungen im literarischen Colloquium

Bevor er 1977 wegen eines bösartigen Gehirntumors viel zu jung sterben mußte, hatte der Istanbuler Autor Oguz Atay, der mit seinen Lesern unzufrieden war, diese Titelworte ausgesprochen. Erst einige Jahre nach seinem Tode ist er von den Literaturkritikern entdeckt und hochgeschätzt worden — ähnlich einem türkischen James Joyce. Wegen seines frühen Todes konnte er seinen Romanentwurf Seele der Türkei nicht vollenden. Die Beeinflussung durch seine Romane wie z.B. Außenseiter ist nicht nur bei seinen Lesern, sondern auch bei Schriftstellern zu spüren. Dieser hochentwickelte schwarze Humor, der von der kritischen Haltung seiner Person gegenüber einer unterentwickelten absurden Gesellschaft stammt, führt bei seinen Lesern zu schockartigen Reaktionen: extreme Freude, Grausamkeit oder sogar Selbstmord.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Türkei Literarisch« sollte Selim Ileri, der zum Teil von Atay beeinflußt wurde, am 25. April im Literarischen Colloquium Berlin die Lesungen eröffnen, was er aus unerklärlichen Gründen nicht konnte. Selim Ileri erfand die »Todesbeziehung« und gilt als der türkische Pionier der Ästhetisierung der illegalen Homosexualität. Nebenbei ist er der fleißigste Sohn des türkischen Romans mit drei Romanen pro Jahr.

Das LCB hat mit Unterstützung vom DAAD und dem Senat für kulturelle Angelegenheiten in diesem Jahr einige Überraschungen aus dem nahen Orient für die Literaturliebhaber in petto. Eine Reihe der wichtigsten AutorInnen der Türkei werden über das Jahr verteilt mit ihren Lesungen auf sich aufmerksam machen. Nach Berlin kommen der bekannte Lyriker Fazil H. Daglarca, der älteren Generation zugehörig, die Schriftsteller Bilge Karasu, Hilmi Yavuz, Demir Özlü und die wichtigsten Autorinnen der gegenwärtigen türkischen Literatur: Adalet Agaoglu, Pinar Kür, Tomris Uyar. Weiterhin lesen die bedeutendsten jungen Vertreter des türkischen Romans Orhan Pamuk und Nedim Gürsel (Paris), der Stücke- und Gedichteschreiber Murathan Mungan und die Berliner Autoren Aras Ören, Güney Dal und Zafer Senocak.

Das erste Treffen der Reihe fand als Symposium in der Kongreßhalle zum Thema »Literaturstadt Istanbul« statt. Bei dieser Gesprächsrunde, in der Deniz Göktürk die Leitung übernommen hatte, sprach der in Paris lebende Autor N. Gürsel über Pierre Loti, der im 16. Jahrhundert in Istanbul gelebt hatte, und über Lotis »postkartenähnliche Bilder« von dieser Stadt. »Der Name, der mein Leben am tiefsten beeinflußt hat, ist Istanbul«, hat P. Loti geschrieben. Und der französische Semiotiker Roland Bartes schrieb über Loti: »Was mich an den Romanen von Loti über Istanbul interessiert, daß es in ihnen nichts gibt.« N. Gürsel wiederum betonte deren Wichtigkeit als erste Beispiele von Großstadtliteratur, in der die Stadt als Held dargestellt wird. Der Autor des Erzählbandes Istanbul, meine Geliebte weiter: »Ich habe Istanbul sehr spät entdeckt. Als ich in Paris lebte, wuchs meine Sehnsucht nach Istanbul. Ich habe Flauberts Briefe über Istanbul gelesen. Orhan Pamuk meinte, daß Flaubert in Istanbul in den Puff ging. Naja, lassen wir's.«

Istanbul haben viele Dichter und Autoren einen Namen gegeben. Nazim Hikmet nannte sie »Stadt mit sieben Hügeln«, Y. Mirac »Stadt mit sieben Brüsten«, Tevfik Fikret »Die von tausend Ehemännern übriggebliebene jungfräuliche Witwe« und J. Cacteau »eine alte Kokotte voller Schmuck und mit Erfolgen geschminkt«.

Pinar Kür, eine der wichtigsten Vertreterinnen der türkischen Frauenliteratur und Autorin des in deutscher Sprache vorliegenden Erzählbandes Ein verrückter Baum meint: »Istanbul ist eine Stadt, die sich mit rasender Geschwindigkeit ändert, und wenn man glaubt, jetzt habe ich's, verschwindet sie einem aus der Hand. Wer über Istanbul Schlechtes sagt bei uns, liebt Istanbul sehr. Es gibt eine Dramatik dieser Liebe zur Stadt, eine Spannung. Diese Spannung, die ich immer fühle, gerade sie ist der Grund dieser Liebe.«

Ein anderer Istanbuler Autor ist Orhan Pamuk. Er hat bis jetzt vier Romane veröffentlicht, die von den Kritikern begeistert aufgenommen wurden. Ins Deutsche übersetzt ist bisher der Roman Die Weiße Festung. Pamuk begann, sich mit Istanbuls heutigem »Image« auseinanderzusetzen, aber auch mit den alten Bildern der Stadt. »Ich sehe mich als Opfer und gleichzeitig Nutzer dieser Bilder.« In der Identitätsfrage des Autors und der Stadt kommt er zu der Schlußfolgerung: »In der Beschreibung der Stadt drücken wir uns selbst aus.«

Erdal Öz, Schriftsteller und Verleger, leitete seine Worte mit einem Zitat seines verstorbenen Kollegen Y.K. Karaosmanoglu ein: »Istanbul hat seine eigene Zivilisation — die Istanbuler Zivilisation. Istanbul war Zentrum einer Zivilisation, die weder östlich noch westlich ist. Das wissen unsere Jugendlichen nicht, weil das damalige Istanbul nicht mehr existiert.« Dazu Öz: »Aber dieses alte Istanbul ist ein Märchenland für uns. Die jetzigen Eigentümer von Istanbul sind ganz andere. Istanbul ist jetzt eine übervölkerte Stadt voll mit Betonmassen, Automobilen und ohne Wasser. Istanbul ist im Besitz einer Kultur der Dekadenz, die sich von Arabesk über Lahmacun bis Cigköfte (Spezialitäten aus der Provinz) erstreckt. Das alte Istanbul ist verschollen wie vor Jahrhunderten Byzanz.« Dann sprach er von Istanbul als Zentrum aller kulturellen und politischen Tätigkeiten und von der Sanftheit der Istanbuler Sprache. Orhan Pamuk, der während der Diskussion immer wieder klagte, daß man permanent vom Thema abschweifte, gelang es nicht, seine SchriftstellerkollegInnen dahin zurück zu bringen. Yalcin Baykul

Heute um 20 Uhr lesen Orhan Pamuk, Nedim Gürsel, vorgestellt von Sten Nadolny, im Literarischen Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, Berlin 39. Weitere Veranstaltungen am 22. und 23. Mai, 26. und 27. Juni, 15. und 16. Oktober, 19. und 21. November, 3., 11. und 17. Dezember. Eine Anthologie mit Texten der eingeladenen AutorInnen erscheint im Babel-Verlag: Jedem Wort gehört ein Himmel .

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