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Annäherung an das politische Geschehen

■ Ein neuer Blick auf Heideggers Verstrickungen in den Nationalsozialismus: Dieter Thomäs „Kritik der Textgeschichte Heideggers“

1928 sei „alles in Rutschen“ gekommen, schrieb Martin Heidegger an Hans-Georg Gadamer. 1928 hatte er gerade ein wichtiges Jahr seiner Karriere hinter sich. In aller Eile hatte er Sein und Zeit niedergeschrieben und veröffentlicht; die Voraussetzung dafür, daß er die Nachfolge auf dem Lehrstuhl von Nicolai Hartmann in Marburg antreten konnte.

Die Fehler und Unzulänglichkeiten dieser ersten Systematisierung der eigenen philosophischen Position in Sein und Zeit sind ihm kurz nach der Niederschrift aufgegangen.

Am 18.März 1933 schrieb Heidegger an Karl Jaspers: „Man muß sich einschalten.“ Offensichtlich hatte er die Krise überwunden und wurde Teil des nationalsozialistischen Aufbruchs.

Die Diskussion über Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus ist mit den Veröffentlichungen von Viktor Farias (Heidegger und Nationalsozialismus, 1989) und den Forschungen des Freiburger Historikers Hugo Ott (Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 1989) neu belebt worden. Habermas hat bei Heidegger 1929 eine „Verweltanschaulichung“ seiner Philosophie entdeckt und mit Ernst Tugendhat die Preisgabe des kritischen Selbstbezugs als Fundament der Hingabe an den Nationalsozialismus gesehen. Wie eng war das Verhältnis von Philosophie und NS-Engagement wirklich?

Bis heute nämlich liegt keine Untersuchung vor, die Heideggers NS- Engagement aus seinen Texten zu verstehen versucht und nicht nur private und persönliche Gründe dafür haftbar macht.

Nicht das Denken, der Textprozeß interessiert

Dieter Thomä hat ein umfangreiches und exzellent geschriebenes Werk über die Textgeschichte Heideggers vorgelegt und versucht zu belegen, daß ein systematischer Zusammenhang zwischen Heideggers Philosophie und dem Nationalsozialismus besteht.

„Schon in Sein und Zeit ist etwas zu finden, das philosophisch zum Nationalsozialismus hinführt“, behauptet Thomä. Er setzt Heidegger nicht auf die Anklagebank. Vielmehr hält er sich an das Motto der Einleitung von Elias Canetti: „Mit Haß wie mit Strafen ist den Menschen nicht beizukommen. Sie klagen sich an, indem sie sich darstellen, wie sie sind.“

Thomä rückt dem umfänglichen Textkorpus Heideggers mit immanenter Kritik zu Leibe. Nicht so sehr das Denken interessiert ihn — wie Otto Poeggelers Studie zum Denkweg Heideggers —, sondern der Textprozeß als Vorgang ständiger Korrektur und Selbstkorrektur. Texte sind für Thomä „Dokumente einer praktischen Selbstverständigung“. Dabei hat er Anleihen gemacht bei der französischen Semiologie (Kristeva, Barthes), bei Adornos Musikphilosophie sowie beim späten Sartre (Der Idiot der Familie). Der Text ist in dieser Tradition Medium der Erfahrung und der Totalisierung, die aber nur um den Preis von Ausschlüssen gelingt.

Die Schriften der Jahre 1933/34 (Arbeitsdienst, Deutsche Studenten, Der Ruf zum Arbeitsdienst, Die Universität im nationalsozialistischen Staat und die Schlageter-Rede) sind ihm einerseits Ergebnis eines Textprozesses, und andererseits sieht er, wie Heidegger hier Annäherung an das politische Geschehen sucht.

So zeigt Thomä, wie aus dem Scheitern von Sein und Zeit, wie aus den Sprüngen und Rissen in dieser „ersten Totalisierung“ des Heideggerschen Philosophierens sich ein Umkippen zum Nationalsozialismus ergibt. Wenn 1928 alles „ins Rutschen kommt“, so müssen sich eben schon „lockere Stellen“ in Sein und Zeit finden. Thomä macht dies am zentralen Begriff der Zeitlichkeit deutlich, wie dort der Augenblick das alte asymmetrische Modell ablöst. Heidegger gelingt es in diesem Werk nicht, den Tod als zu ergreifende Möglichkeit schlüssig in das Konzept des Daseins einzubeziehen. Der Tod gehört nicht zu den Möglichkeiten des eigensten Seinskönnens. Damit bekommt das Daseins eine asymmetrische Struktur zwischen der Vergangenheit und der „nach“ dem Leben liegenden Zukunft. Das Dasein bleibt in der Zukunft hängen und verfehlt die Gegenwart.

Weg vom Einzelnen und hin zum Volk

Die Zukunft wird zugunsten eines emphatischen Augenblicks preisgeben, der zudem die Möglichkeit der Handlung, des Eingreifens und Einfügens in das augenblickliche politische Geschehen ermöglicht. Heidegger betont nicht mehr die Möglichkeiten des Subjekts und seine kritische Selbstverständigung, sondern das Subjekt wird über die Veränderung der Zeitstruktur in das augenblickliche Geschehen gestellt.

Wenn das zu formal und zu abstrakt klingt, so ist daran zu erinnern, daß der Augenblick die entscheidende Kategorie jeden Dezisionismus ist. Die Machtergreifung des Nationalsozialisten machte sich jene Philosophie des Augenblicks zunutze, die jegliches Räsonieren und Kritisieren ausschließt. Gefordert ist im Augenblick allein die Entscheidung. Thomä hat dies an Heideggers Formel vom „Wollen des Gesollten“ aus der Vorlesung von 1930 belegt. Das augenblickliche Geschehen wird als Zwang empfunden, den das Dasein auch zu wollen hat. Damit wird die Koppelung von Selbstverständigung und Daseinsgeschehen durchtrennt und der Einzelne dem über es hinwegziehende und über es verfügende Geschehen preisgegeben.

Nur im Augenblick kann das Dasein ganz werden, ohne noch auf die Zukunft ausgreifen zu müssen. Es kommt so zu einer „dramatischen Umdeutung des Selbst“ bei Heidegger, das seine Orientierung nicht mehr länger aus sich selbst heraus leisten muß, sondern sich an ein übergeordnetes Geschehen — hier den nationalsozialistischen Aufbruch — anlehnen kann.

Die Neudefinition des Daseins führt weg vom Einzelnen und hin zum Volk. Thomä zeigt präzise, wie Heidegger an frühere Positionen anknüpft und sie — indem er sie korrigiert — in seine „NS-Weltanschauung“ überführt. Das Volk nimmt in Sein und Zeit noch die Instanz ein, zu der das Dasein Zugang gewinnen will. Jetzt ist es ein Geschehen, das vor aller Verständigung als „Ganzes“ auftritt, in das der Einzelne schon miteinbezogen ist. Das Volk ist daher keine Setzung, sondern beruht auf den „erd- und bluthaften Kräften“, die dem „Wollen des Gesollten“ korrespondieren. Diejenigen, denen sich das „Gesollte“ als Schicksal offenbart, sind zu Führern ausersehen. Das Sollen ergibt sich für das Volk aus der Bestimmung durch die Erde und vollzieht sich in der Arbeit. Sie nimmt die Stelle des Handelns in Sein und Zeit ein. Die Arbeit bringt den Menschen in die Nähe des „Geschehens“.

Thomä liest Sein und Zeit als gescheiterten Versuch, die Ganzheit des Selbst zu erzwingen. Das Scheitern ist Ausschlüssen und „Resten“ zuzuschreiben, die im Verborgenen weiterwirkten und die Textgeschichte voranbringen. Sein und Zeit scheiterte aber so total, sagt Thomä, daß nicht mehr von einer Kehre gesprochen noch von einem verbleibenden Rumpf ausgegangen werden kann, der dann ins NS-Engagement hineingerettet wird.

Thomä befindet sich damit im Gegensatz zu Habermas, Theunissen und anderen, die mit Heidegger gegen Heidegger lesen und die in Sein und Zeit unhintergehbare Einsichten zu retten versuchen.

In der Kritik der Textgeschichte geht es denn auch beständig darum, Inkonsistenzen, Sprünge, offizielle und inoffizielle Probleme und Ungleichzeitigkeiten aufzuspüren. Diese Ausschlüsse und Reste sind es auch, die zentral zum NS-Engagement beitragen. So wird die Differenz zwischen Selbst und Welt zugunsten eines Geschehens getilgt und das Geschehen an die Stelle des Selbstbezugs gesetzt.

Aus subjektiver Sicht liegt kein Irrtum vor

Damit sind für Heidegger die Weichen gestellt. Wenngleich es keine offizielle „NS-Philosophie“ gab, sondern nur eine „Weltanschauung“, so hatte doch Heidegger 1933 kurzzeitig die Hoffnung gehegt, zum offiziellen Philosophen der NS-Bewegung aufzusteigen.

Thomä rekonstruiert aus den Texten Positionen, die zum NS führten, oder die sich als Elemente der NS- Ideologie entpuppen. Ernst zu nehmende und relevante Texte sind ihm dabei gerade die Schriften und Reden aus der Zeit des Rektorats, weil Heidegger hier versucht, seine philosophische Position mit der nationalsozialistischen Politik und dem eigenen Handeln zu verbinden. Deutlich ist durch die Forschung inzwischen belegt, daß Heidegger als Rektor der Freiburger Universität die umfassende Umgestaltung der Hochschulen im Sinne des Nationalsozialismus anstrebte.

Was in Sein und Zeit ausgeschlossen war, gewinnt nun, nach 1933, zentrale Bedeutung: Natur und Erde. An die Stelle des Einzelnen setzt Heidegger das Volk und ihm gegenüber den Führer als „Schaffenden“. Thomä zeigt, wie Heidegger den Aufbruch der nationalsozialistischen Bewegung philosophisch fundieren wollte. Die Erneuerung der Universität mit der Führergestalt Heidegger fügt sich hier ein.

Thomä sieht letztlich keine Abkehr vom Nationalsozialismus, als Heidegger das Rektorat niederlegt und sich aus der Politik zurückzieht. Heidegger habe vielmehr an dem festgehalten, „was eigentlich aus der nationalsozialistischen Revolution werden sollte“. Nach Thomä hat Heidegger dem NS-Engagement philosophisch vorgearbeitet und hält hinterher an dem fest, was ihm als „innere Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus“ gilt.

Das Irritierendste an Heidegger ist nach wie vor sein Schweigen zum NS-Engagement und das Nichteinbekenntnis der Irrtümer. Daß Heidegger sich aber geirrt hat, was er aus systematischen Gründen nicht zugeben kann, zeigt der Prozeß der permanenten Selbstkorrektur und -umdeutung. Aus Heideggers subjektiver Sicht liegt jedoch kein Irrtum vor, denn selbst die Technik und der Nationalsozialismus ist ein — wenn auch negativer — Bote des Seins. So glaubt er sich schon immer in der Nähe des Seins oder des Ereignisses befunden zu haben.

Nationalsozialismus als „Wüten der Technik“

Weil diese „Organisation des ursprünglichen Geschehens“ gescheitert war, setzt Heidegger in den Schriften nach 1934 neu an. Diese Zeit der „Suche“ (1934 bis 1948) ist Vorbereitung der zweiten Totalisierung. Das Handeln wird zugunsten des Lassens zurückgedrängt. Das Ursprüngliche soll sich jetzt vermittels der Sprache und durch das Kunstwerk erschließen.

Thomä zentriert die Textgeschichte um zwei Totalisierungen: um Sein und Zeit und um die Texte aus der Zeit nach 1949, in deren Zentrum das „Ereignis“ steht. In ihnen wird wieder in einer groß angelegten Zusammenfassung eine philosophische Synthese gewagt. Hier wird aus den bisherigen Ergebnissen der Textgeschichte um zwei gewonnene Einsichten eine neue Form entwickelt. Thomä zeichnet das Drama der Textgeschichte. Wieder ist Heidegger gescheitert. Er hatte sich an der „Organisation des Ursprünglichen“ versucht, das sich aber in seiner späteren Selbstdeutung als von der Herrschaft der Technik infiziert entpuppte.

Aber er bleibt dem Konzept des „ursprünglichen Geschehens“ treu. Dies soll sich nun in der Kunst — im Kunstwerk — und negativ in der Technik zeigen. Im Kunstwerk wird das Handeln zum Schaffen. In ihm ist ein Refugium für die Nähe zum „ursprünglichen Geschehen“ gegeben. Danach wird die Technik zur kritischen Instanz, und der Nationalsozialismus kann als „Wüten der Technik“ interpretiert werden.

Scheinbar aus der Vergangenheit gelöst

Heidegger immunisiert damit die eigene Verstrickung. Die Wendung zur Kunst und zur Technik sind Stationen auf dem Weg zur Überwindung der Subjektivität. In Heideggers Technikkritik wird so etwas wie eine ökologische Lesart sichtbar. In ihr wird der Niedergang des Handelns und die Liquidation des Subjekts zugunsten eines Geschicks und eines sich negativ ankündigenden Geschehens herausgestellt. So wird in Thomäs Augen das NS-Engagement nicht bewältigt, sondern zieht sich als „Lastschrift“ durch die weiteren Texte. Sie münden in eine zweite Totalisierung, in der die Asymmetrie durch das „Geviert“ zur Ruhe kommt und symmetrisch wird.

Im „Geviert“ hat Heidegger eine neuheidnische Ordnung gefunden, die der katholischen Ordnung seiner Anfänge gegenübersteht. In ihm ist die Asymmetrie von Welt und Selbst ausgeglichen und fundiert in einem Grundgeschehen. Alles in ihm — Göttliche, Sterbliche, Himmel und Erde — wird getragen von einem „Ereignis“, das nicht mehr als fremde Macht gegenübersteht. Damit kann Heidegger der Kritik der eigenen Verstrickung ausweichen und einen posthistorischen Zustand entwerfen, der die Verspannungen der früheren Versuche beseitigt. Mit der zweiten Totalisierung hat sich Heidegger scheinbar von seiner Vergangenheit gelöst, ohne sie kritisieren zu müssen.

Thomäs Buch ermöglicht einen neuen Blick auf Heidegger indem es die ganze Fülle seiner Texte behandelt. So liegt ein Werk vor, das sich nicht in philologische oder interpretatorische Details verheddert. Das Buch zeigt einen besessen arbeitenden Heidegger, wie er unaufhörlich an seinem philosophischen Werk baut und ein ums andere mal den Bau wieder niederreißen und aus den alten Materialien neu errichten muß. Am Schluß steht Gelassenheit und eisiges Schweigen. Rudolf Speth

Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910 — 1976 , Suhrkamp Verlag, 965 Seiten, 98 DM.

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