piwik no script img

Eine tragische Sekunde Unaufmerksamkeit

In Darmstadt steht der Lokführer der S-Bahn, die im Februar 1990 den Tod von siebzehn Menschen verursachte, vor Gericht/ Mitglieder der Gewerkschaft der Lokomotivführer unterstützen den als pflichtbewußt geltenden 24jährigen  ■ Klaus-Peter Klingelschmitt

Darmstadt (taz) — Helmut H. ist ein pflichtbewußter junger Bundesbahnbeamter. Der damals 22jährige Lokomotivführer steuerte am 2. Februar 1990 die S-Bahn 5063 — die 17 Menschen den Tod brachte. Bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Rüsselsheim übersah Helmut H. ein Haltesignal und verursachte das bislang größte Eisenbahnunglück in der Geschichte der BRD. Die aus Mainz kommende S-Bahn rammte kurz nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof um 16.43 Uhr eine aus Frankfurt kommende S-Bahn: Von den knapp 1.000 Fahrgästen der beiden Züge wurden 80 schwer verletzt. 17 Menschen starben in den Trümmern der zusammengeschobenen Waggons.

Seit Montag mußte sich Helmut H. vor dem Landgericht Darmstadt dafür verantworten, „fahrlässig“ den Tod von 17 Menschen herbeigeführt und einen „unzulässigen Eingriff in den Bahnverkehr vorgenommen“ zu haben. So lautete die Anklage der Staatsanwaltschaft. Der inzwischen 24jährige junge Mann hatte für den Bruchteil einer Sekunde seine Pflichten als Führer eines Vollzuges vernachlässigt. Als sich die Meute der Pressefotografen am vergangenen Montag auf den blassen „Täter“ stürzte, bildeten Mitglieder der Gewerkschaft der Lokomotivführer Deutschlands (GDLD) einen schützenden Ring um ihren Kollegen. Für die vom Dienst gestreßten Lokführer steht fest, daß in Darmstadt eigentlich die Führungsspitze der Deutschen Bundesbahn auf die Anklagebank gehört. Mehr als hundert Überstunden habe Helmut H. „auf dem Buckel gehabt“, als er in Rüsselsheim das Haltesignal überfuhr — noch dazu gehöre dieses Signal ins Museum.

In der Tat: Auf der Bahnstrecke zwischen Mainz und Frankfurt gibt es nur noch im Bahnhofsbereich Rüsselsheim und am Bahnhof Opelwerk die noch aus Vorkriegszeiten stammenden „Formsignale“ (Schwenkbare Arme). Der Sachverständige Karl Schreck entdeckte noch eine weitere „Lücke im Sicherheitssystem“ der Bundesbahn. Das 60 Jahre alte „induktive Zugsicherungssystem“ der Bahn greife erst dann, wenn ein Zug ein Haltesignal bereits überfahren habe. Für die alten Dampfrösser der Bahn, die nur schwerfällig auf Touren kamen, habe dieses System ausgereicht, nicht aber für die schnellen modernen S-Bahnen. Optimale Sicherheit, so auch die Lokomotivführer, könne es nur dann geben, wenn ein System installiert werde, das einen bei Haltesignal anrollenden Zug bereits bei der Anfahrt automatisch abbremse. Die S-Bahn, die den Unfall verursachte, hatte kurz hinter dem Rüsselsheimer Bahnhof schon auf eine Geschwindigkeit von 86 Stundenkilometer beschleunigt.

In der Eisenbahnergemeinde Bischofsheim bei Rüsselsheim hatten sich die Lokführer vor Monatsfrist versammelt, um gegen die damals angekündigte Prozeßeröffnung zu protestieren. Helmut H. sei ein „Opfer der widrigen Umstände“ geworden, lautet der Tenor der Stellungnahmen. Der junge Lokführer müsse damit leben, daß durch seine Unaufmerksamkeit 17 Menschen starben. Und das sei Strafe genug. Die Eisenbahner forderten die umgehende Modernisierung der Signalanlagen und der automatischen Sicherungssysteme — und den sukzessiven Abbau des Überstundenberges.

Vor Gericht bescheinigte ein Ausbilder Helmut H. eine „vorbildliche Dienstauffassung“: „Ich wollte, wir hätten nur solche Lokführer.“ Helmut H. selbst sagte bei seiner Vernehmung aus, daß der Beruf des Lokomotivführers zwar nicht sein Traumberuf gewesen sei, er aber „immer mehr Freude am Dienst entwickelt“ habe. Er wünschte sogar seinen Fahrgästen an den Haltestellen einen „schönen Tag“, was allerdings seinen Vorgesetzten zu weit ging. Der aus einer nordhessischen Eisenbahnerfamilie stammende junge Mann mit dem „großen Verantwortungsgefühl“, so der Psychologe Fred Metternich in seinem Gutachten, sei „stark abhängig von sozialer Anerkennung“ gewesen. Wer „erhöht suggestibel“ reagiere, der sei grundsätzlich auch anfälliger für das Phänomen der optischen Täuschung. Nach wie vor behauptet Helmut H., daß ihm das Signal „freie Fahrt“ angezeigt habe — eine Einlassung, die durch Sachbeweise längst widerlegt ist. Für den Psychologen Metternich ist die „subjektive Gewißheit“ für den Betroffenen selbst allerdings auch durch Sachbeweise nicht zu erschüttern.

Die technischen Sachverständigen erklärten in ihren Gutachten übereinstimmend, daß die Sicherheitssysteme entsprechend ihrer Betriebsbestimmungen funktioniert hätten — obgleich die Systeme nicht dem neuesten Stand der Technik entsprächen. Auch seien keine Verstöße gegen betriebstechnische Vorschriften registriert worden. Andere Personen könnten für das Unglück nicht mitverantwortlich gemacht werden.

Das Gericht in Darmstadt wird bei der Urteilsfindung das Maß der persönlichen Schuld des Angeklagten am Tod der 17 Bahnreisenden in Rüsselsheim abwägen und dafür ein Strafmaß finden müssen. „Es gibt leichtere Aufgaben im Leben“, räumte einer der emotional aufgewühlten Gewerkschafter nach dem ersten und gleichzeitig letzten Prozeßtag nachdenklich ein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen