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INTERVIEW„Es gibt drei Stadien der Information“

■ Der Journalist Jurij Shcherbak berichtet über die schleppende Aufklärung der Bevölkerung nach der Katastrophe

taz: Herr Shcherbak, Sie waren einer der ersten, die über die Schlampereien in Tschernobyl geschrieben haben. Sind inzwischen Leute zur Verantwortung gezogen worden?

Jurij Shcherbak: Unsere Vereinigung „Grüne Welt“ führt gerade strafrechtliche Untersuchungen durch. Am 26. April wird es die erste öffentliche Anhörung zu diesem Thema in Kiew geben. Wir haben auch Augenzeugen eingeladen, die die Vorgänge schildern können. Aber dieser Prozeß hat mit den wirklichen Schuldigen nichts zu tun. Das sind zweitrangige Leute. Eigentlich müßten wir das politische System anklagen, das die Wahrheit bis heute vor dem Volk vertuscht, das nicht die notwendigen Sicherheits- und Schutzmaßnahmen ergriffen hat und beispielsweise die Kinder noch gezwungen hatte, zur 1.-Mai-Demo zu gehen, als die radioaktive Wolke schon über Kiew hing. Einige wichtige Zeugen sind schon gestorben, so der Erste Sekretär der Regierungskommission zu Tschernobyl, der ständig Gorbatschow berichtete, und der Erste Sekretär der KP der Ukraine. Die beiden wußten sehr viel.

Glauben Sie, daß Michail Gorbatschow tatsächlich alles erfuhr oder lediglich beschönigte Berichte erhielt?

Alle glauben, daß Gorbatschow den Befehl zur Mai-Demo gegeben hat. Doch in Moskau wird behauptet, daß der Befehl aus der Ukraine selbst kam. Aber solange Gorbatschow an der Macht ist, versucht er diese Dinge zu vertuschen.

Wer vertuscht denn noch?

In erster Linie die Parteiorgane. Einen Tag nach der Havarie kam der Chef des Gebietsparteikommitees nach Tschernobyl und erklärte, daß keine Gefahr bestünde. Es ist anzunehmen, daß die wichtigste Entscheidung im Politbüro gefällt wurde. Deshalb muß man das Protokoll dieser Sitzung haben, um herauszufinden, wer welche Anweisung getroffen hat.

Läßt sich das nach fünf Jahren überhaupt noch ausmachen?

Das Geheimnis um Tschernobyl war oberstes Staatsgeheimnis, vier Jahre drang wirklich nichts nach außen oder nur sehr spärlich.

Wenn man die staatlichen und privaten Initiativen vergleicht, kommt von privaten Gruppen mehr Unterstützung für die Menschen?

Ich glaube nicht, daß man das so einschätzen kann. Es wurde sehr viel staatlicherseits getan. Die erste Welle der Evakuierung setzte am zweiten Tag ein. Tausende erhielten neuen Wohnraum und wurden in andere Gebiete umgesiedelt.

Das waren Sofortmaßnahmen, aber wer kümmerte sich dann um die Dagebliebenen?

Es stimmt, daß kurz nach der Havarie große Hilfsaktionen anliefen, aber die verebbten dann tatsächlich, so daß drei Jahre kaum etwas passierte.

Also außer den Sofortmaßnahmen hielt sich der Staat doch zurück?

Man darf auch nicht die direkte Katastrophenbekämpfung am Reaktor vergessen. 660.000 haben allein daran gearbeitet. Das Paradoxe an dieser Katastrophe ist, je weiter man sich von dem Ort entfernt, um so gespannter und konfliktreicher ist die Situation. Deshalb ist der Unfall von Tschernobyl nicht nur ein technologisches Ereignis, sondern vor allem ein politisches. Denn die Opposition hat sich auch aufgrund der Ereignisse in Tschernobyl formiert.

Führte die Opposition auch dazu, daß die Leute jetzt mehr erfahren?

Es gibt drei Stadien der Information: Das erste war die totale Funkstille, das zweite die dosierte Information, wo immer wieder betont wurde, daß keine Auswirkungen zu befürchten sind. Das dritte Stadium entstand bereits unter dem Druck der politischen Opposition, als nach und nach das ganze Ausmaß ans Licht kam. Die Kommunisten mußten dann auch auf ihrem letzten Parteitag den Beschluß fassen, eine Kommission zur Untersuchung der Tschernobyl-Katastrophe einzurichten.

Sie sind selbst Mitglied des Obersten Sowjet. Seit wann, und was konnten Sie in Ihrer Funktion als Abgeordneter bewirken?

Seit 1989. Als ich in den Obersten Sowjet kam, habe ich sofort im Komitee für Umwelt und Ökologie gearbeitet. Ein Unterkomitee „Atomenergie“ wurde eingerichtet. Das war meine Idee, um das Tschernobyl-Thema ständig auf den Sitzungen des Obersten Sowjet präsent zu haben.

Neben der „Grünen Welt“ gibt es in der Ukraine auch die Grüne Partei.

Die „Grüne Welt“ ist eine gesellschaftliche Organisation, die 1987 gegründet wurde, als noch jede politische Opposition verboten war. Als ökologische Organisation haben wir die ersten Demonstrationen und Meetings veranstaltet. In der „Grünen Welt“ können alle mitmachen. Inzwischen hat uns die Logik des politischen Kampfes zum Block der demokratischen Kräfte geführt. Trotzdem haben wir auch noch die Grüne Partei gegründet wie in der Bundesrepublik, weil ein Mehrparteiensystem vor der Tür steht. Die „Grüne Welt“ dagegen läßt sich mit dem BUND vergleichen. Interview: Bärbel Petersen

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