: Träumerei?
■ Die Nato und die Sicherheitsoptionen Ostmitteleuropas
Träumerei? Die Nato und die Sicherheitsoptionen Ostmitteleuropas
Lang, lang, nämlich etwas über ein Jahr ist's her, seit der Außenminister der ČSFR, Jiri Dienstbier, sein Memorandum über die europäische Sicherheitsagentur veröffentlichte. Genscher wollte auf der Pariser KSZE-Tagung gleich mehrere Netze gesamteuropäischer Institutionen werfen. Die weitfliegenden Projekte haben sich bislang in einem Prager Büro materialisiert, in dem sich vier Diplomaten mangels Kompetenzen langweilen. „Wir können nicht nur von der Zukunft träumen“ — dieser Satz stammt nicht aus dem Repertoire eines abgebrühten Pragmatikers sondern von Präsident Vaclav Havel. Der Warschauer Pakt ist unter der Erde, die Nato quicklebendig — wie und woran also sollen sich die ostmitteleuropäischen Länder in Sicherheitfragen orientieren? Dies die Frage einer Konferenz zu Prag, der Dienstbier und Nato-Chef Wörner präsidierten.
Die ehemals sowjetischer Gewalt unterworfenen Länder haben ein Sicherheitsproblem. Ihre Regierungen befürchten, daß bewaffnete Auseinandersetzungen in der zerfallenden Sowjetunion auf ihr Gebiet übergreifen könnten: sei es durch den Übertritt geschlagener Truppen, sei es durch eine flüchtende Zivilbevölkerung, sei es, daß eine Militärdiktatur in der UdSSR der Versuchung erliegen könnte, in Ostmitteleuropa erneut „legitime Sicherheitsinteressen“ wahrzunehmen. Der sowjetische Überfall im Januar auf den Sender im baltischen Vilnius wirkte in der ganzen Region wie ein Schock: Er führte zur sofortigen Auflösung der militärischen Strukturen des Warschauer Vertrages und zu einer Wendung Richtung Nato-Headquarter in Brüssel als Stabilitätsanker. Aber die USA haben abgewunken. Die Rückwirkungen auf die Außen- wie die Innenpolitik der Sowjetunion wären absehbar.
Tatsächlich könnten es die Ostmitteleuropäer ganz gut als Quasi-Neutrale auf Zeit in einer sicherheitspolitischen Grauzone aushalten und die genannten Probleme bewältigen — vorausgesetzt, der gesamte Integrationsprozeß mit dem Westen läuft. Das Kernproblem, um das es auch in Prag ging, betrifft die Sowjetunion. Wörner wie Genscher mögen noch so nachdrücklich versichern, eine Ausgrenzung der Sowjetunion käme nicht in Frage — solange sich die Nato weigert, gemeinsamen, gesamteuropäischen Sicherheitsinstitutionen zuzustimmen, bleibt die Sowjetunion außen vor. Wie auch sonst der Bug und die Tatra zur neuen innereuropäischen Grenze werden. Den KSZE-Rahmen sicherheitspolitisch weiterzuentwickeln ist deshalb keine Träumerei, sondern die Aufgabe des Tages. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen