: Die „dicken Bäuche“ der Neonazis
Verfassungsschutz im Land Brandenburg wird aufgebaut/ Bündnis 90 geht durch Gesetzeszwang auf den Kompromiß ein, fordert aber parlamentarische Kontrolle und Akteneinsicht/ „Eliteideologie“ der Neonazis aus der Ex-DDR wird zum Problem ■ Von Sabine Heinrich
Potsdam. Wenn es im Potsdamer Telefonnetz schnurrt, kratzt oder piept, sind das wahrscheinlich nicht nur überlastete Drähte, die mit gelegentlichen Störungen ihren Kummer kundtun. Über „abenteuerliche“ Mithörverbindungen orakelt Verfassungsschützer Ernst Uhrlau, der in Brandenburg nämlicher Behörde aus den Startlöchern helfen soll. In seinem Revier sind die unbefugten Lauscher (noch) nicht angestellt. Bis vor kurzem saß er, wenn die gesamte Abteilung Verfassungsschutz zum Rapport gerufen war, mutterseelenallein vor seinem Innenminister.
Gesetz zwingt zum Verfassungsschutz
Das bleibt nicht mehr lange so. Gemäß Paragraph 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ist auch das Land Brandenburg verpflichtet, eine Verfassungsschutzbehörde aufzubauen — will man sich nicht der Rechtsuntreue gegenüber dem Bund schuldig machen.
Genau auf dieser Grundlage wächst der Kompromiß, den das Bündnis 90 als Regierungspartner eingehen wird — sehr zum Verdruß einiger BürgerrechtlerInnen an der Basis. Doch die Behörde, versichert Bündnis-Abgeordneter Henrik Poller, soll nicht wie in den anderen neuen Bundesländern am Parlament vorbei, sondern unter seiner strengen Kontrolle installiert werden. Von Anfang an soll dem parlamentarischen Kontrollausschuß, der — nach Berliner Vorbild — nur in Ausnahmefällen geschlossen tagen soll, Akteneinsicht gewährt werden. In den Altbundesländern hat es die grün-alternative Opposition schwer, Zutritt zu diesem Gremium zu erhalten. Für Poller ist es keine Frage, daß die PDS beteiligt werden muß. Das Vorschaltgesetz über den Verfassungsschutz, das Mitte Mai vom Landtag in Potsdam abgesegnet werden soll, untersagt die Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel.
Noch brauche er die nicht, meint Uhrlau. Zunächst wird seine Behörde „Lageberichte“ über rechtsextremistische Ausschreitungen erarbeiten. Ersten Aufschluß erhofft sich der Kenner der links- und rechtsextremistischen Hamburger Szene aus den Informationen der Polizei, die in der Zusammenschau mit den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes in den Altbundesländern ausgewertet werden sollen.
Soziale Krise stabilisiert Gruppen der Neonazis
Im Westen hätten die Neonazis bei Jugendlichen im Alter von 16 bis 22 Jahren ihre „statistischen großen Bäuche“. Doch viele ihrer Anhänger lösen sich nach relativ kurzer Zeit aus den gewalttätigen rechtsextremistischen Außenseitergruppen. Im Osten wurden rechtsextremistische Gruppierungen vor der Wende als „Außenseiter und Protestbewegung im Randbereich der sich sozialistisch nennenden DDR“ (Uhrlau) aktiv. „Aber in einer Gesellschaft“, charakterisiert Verfassungsschützer Uhrlau das Potential „die über einen langen Zeitraum Konflikte nicht austragen konnte und in der die Auseinandersetzung mit Ausländern von oben tabuisiert wurde, hat eine solche Gruppierung mehr Möglichkeiten über den Tag hinaus zu bestehen.“ Die „Außenseiterideologie“ habe sich, in dem Wissen, daß in der „nationalen Frage“ nur die Rechtsextremisten die „wahre“ Antwort haben, zur „Eliteideologie“ gewandelt. Die soziale Krise in den neuen Bundesländern könne dazu führen, daß rechtsextremistische Strukturen stabiler bleiben als vergleichbare Gruppierungen in der alten Bundesrepublik.
Neonazistische Gruppen aus dem Westen wie der Kühnen-Flügel der FAP oder die nationalistische Front — eine kadermäßig aufgebaute und zur Militanz neigende Gruppierung — versuchen im Osten Fuß zu fassen. „Weder im Osten noch im Westen laufen die Rechtsextremisten mit einem großen Theoriengebäude durch die Gegend“, erläutert Uhrlau. Randale, Alkohol, Prahlsucht hätten eine große Rolle, auch bei den jüngsten Vorfällen an der deutsch-polnischen Grenze gespielt. Es fehle die „Steuerung über den Kopf“ — gehandelt würde „aus dem Bauch heraus“. Die Polenfeindlichkeit habe dabei einen direkten Bezug zum wichtigen ideologischen Ansatz der Neonazis, ein Deutschland in den Grenzen von 1937 „heimzuholen“.
Wenn sich rechte Skins und linke Autonome auf den S-Bahnhöfen rund um Berlin „systematisch die Köpfe einschlagen“, hofft Uhrlau, würden diese Fakten die Akzeptanz in der Bevölkerung schaffen, das hier ein Sicherheitsproblem „eingekreist“ werden müsse.
„Lageberichte“ seien der erste Schritt, weitere Informationsdefizite müßten mit nachrichtendienstlichen Mitteln beseitigt werden. Doch zuvor müssen der Landesdatenschutzbeauftragte benannt und ein Landesdatenschutzgesetz verabschiedet sein. Neben dem organisierten Rechtsextremismus wird sich die Brandenburger Verfassungsschutzbehörde mit anderen Formen organisierter Gewalt und dem RAF-Terrorismus beschäftigen. Aufgespürt werden sollen vermutete Informationsnetze des KGB, die jetzt möglicherweise mit Hilfe früherer Stasi- Mitarbeiter aufgebaut werden. Dabei könne der Verfassungsschutz nicht den Stasi-Auflöser spielen und auf keinen Fall eine Aufarbeitung dieses Kapitels leisten. Wenn frühere Stasi-Leute ihre Informationen zur Erpressung nutzen, ist dafür die Polizei zuständig.
Wenn zukünftig eine großes Ohr die Telefonleitungen versperrt, kann der betroffene Bürger — so er Verdacht schöpft — sich „vertrauensvoll“ an den Verfassungsschutz wenden oder über den Datenschutzbeauftragten erfahren, ob die Behörde Informationen über ihn speichert.
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