Die frühen Wendersmänner

■ Der junge Wim Wenders im Kurzfilmpaket auf vier verschiedene Kinos verteilt

Alle paar Jahre erkennt man erschreckt, daß die Zeit auch für einen selbst vergeht und sucht Verbindung aufzunehmen mit dem, was früher einmal war. An stillen Abenden, legt man alte Platten auf, kramt alte Photos und Tagebücher hervor, um zu gucken, wie man früher so war. Wenn man sich nicht mehr richtig erinnert, ist man peinlich berührt von den lyrischen Ergüssen eines vergangenen Ichs, manchmal seltsam berührt, wenn Schrift oder Bild einen Augenblick wiederkehren lassen. Eher langweilig dagegen ist es, wenn einem Menschen, bei deren Vergangenheit man zufällig nicht zugegen war, ihre mehr oder minder ungeschickten Versuche künstlerischer Annäherung an die (eigene oder andere) Realität präsentieren.

So oder doch so ähnlich, als Fremder, der andere Erinnerungen hat, schaut man auf frühe Kurzfilme von Wim Wenders, die der Basisfilmverleih ab heute in der Filmbühne am Steinplatz, im Babylon (Mitte) und im Notausgang im Rahmen einer größeren Retrospektive präsentieren wird. Noch unverbunden ist vieles bereits da, von dem, was später, in den Spielfilmen ab 1970, Wenders Ruhm begründen wird: zufällige Kreuzungen in der Morgen- oder Abenddämmerung, ab und zu kommt ein Auto vorbei; im Regen leuchten breit die roten oder weißen Lichter. Bahnhöfe oder Straßen, immer wieder, stundenlang, nichts passiert, kein Wort, kein Mensch, der Träger der diffusen Sehnsüchte sein könnte. Sie sollen etwas sagen, die Bilder, doch der Filmer weiß selber noch nicht so genau, was. So schweigen sie den Betrachter nur verstockt, traurig, trotzig an.

Alles ist schon da, doch die Entdeckerlust, mit der zum Beispiel der literarisch Interessierte sich an jungen und unfertigen Werken seiner LieblingsschriftstellerInnen erfreut, stellt sich bei den Kurzfilmen von Wim Wenders nur selten ein; eher passiert das Gegenteil. Die Sprache einiger späterer Filme wird durch die frühen Versuche entwertet, denn allzu einfach ist das Arsenal der Metaphern und Bilder: Straßen und Bahnhöfe, Autos und Flugzeuge, Sehnsüchte, die sich gen Westen, nach Amerika wenden. Im Text zu Silver City heißt es: »Der Blick von oben: Eine leere Straße. Autoschlangen, die sich in einer irrealen Stadt vorwärts bewegen. Ein verlassener Bahnsteig. Eine Telefonzelle...« (So »irreal« ist die Stadt allerdings gar nicht; sie hat sogar einen Namen: München).

Nach einer Reihe bewußt beziehungslos hintereinander gestellter Orte, die nur athmosphärisch verbunden sind, dadurch, daß sie immer auf etwas ganz anderes verweisen — das Reisen nach irgendwohin — kommen bedeutungsschwangere Pünktchen, als würde da die wirkliche Wirklichkeit dessen beginnen, der sich hier in seinem Leben nicht so recht zu Hause fühlt. Es ist anstrengend, bis Worte kommen oder Menschen. Diese Schwierigkeit findet sich auch noch in späteren Filmen von Wenders, in denen die Sprache nicht so sehr von der Kunstfertigkeit des Filmers zeugt als von seiner Unfähigkeit, Menschen »natürlich« sprechen zu lassen. Nur in den Monologen einsamer deutscher Männer an amerikanischen Stränden oder in Hotels verliert sich die Künstlichkeit, doch da sind wir schon beim gereiften Regisseur.

Im Gegensatz zu seinen Spielfilmen sind die Wünsche hier noch nicht verbunden mit bestimmten Menschen; die Sehnsucht ist unklar, woher sie kommt, wohin sie geht, der Sehnsüchtige bleibt schmollend oder als Künstler daheim. Mehr als das wirkliche Wegfahren wünscht er sich - ständig seine Wirklichkeitssucht stilisierend, auf halbem Weg zur Geburt schwermütig und ein wenig arrogant, stehenzubleiben in der Dämmerung, wo sich Worte noch nicht deutlich formulieren lassen. Im stilisierten Blick aufs TV singt Mick Jagger irgendwas.

Statt Worte gibt es Musik: Alabama von John Coltrane, drei Platten von Quicksilver Messenger Service, Harvey Mandel, Van Morrisson, Creedence Clearwater Revival und ein ziemlich studentisches Gespräch zwischen Peter Handke und Wim Wenders über amerikanische Musik (3 amerikanische LP's). In einer schon fast komisch im körnigen Schwarzweiß schweigend stilisierten Hippie- oder Drogenkneipe, deren Besucher sich um die Musicbox gruppieren, wird geheimnisvoll ein Mord geplant. Erfolglos jedoch endet der Anschlag; den Täter sieht man in ein Haus hineingehen und verletzt dem Ende entgegenschwanken. Lang quält er sich bei einer Autofahrt und schafft es noch, zur Kneipe zurückzukommen und zusammensinkend noch einmal All along the Watchtower von Jimi Hendrix zu drücken. (Alabama / 2000 Lightyears)

Es gibt auch eher handwerkliche Stilübungen, die man stolz am Ende eines Schuljahres vielleicht (und gegen den Vietnamkrieg) dem Lehrer präsentiert: In Same Player shoots again wiederholt sich fünfmal unterschiedlich coloriert die Szene, in der ein Soldat mit Maschinenpistole von rechts nach links stolpert; vielleicht ist es auch nur der Boden, der unter seinen Füßen von links nach rechts flieht. »Fünf Kugeln hatte früher der Flipperautomat«, meint Wim Wenders.

»Warum machen Sie keine Komödien«, möchte man mit dem alten Mann fragen, der im Trailer für die Retrospektive die allzu stark kopflastige Melancholie des Filmers bedauert. Wenders hat zwar keine Komödien, aber doch Auftragsarbeiten für die TV-Vorabendserie Ein Haus für uns — Jugendfreizeitheim gedreht. Ein achtjähriges, verstocktes Mädchen, »Ute«, hat Schwierigkeiten, mit seinen reichen Eltern und ihren Erwartungen zurechtzukommen. Im Jugendfreizeitheim wird es von den anderen Kids geschnitten. Um sich den ärmeren Kindern anzugleichen, macht sich das neurotische Bürgerkind ständig schmutzig und geht dann in den Zoo; Krokodile angucken. Die »guten alten Methoden« der Pädagogik werden in diesem Streifen pädagogisch verurteilt, die karrieristisch gemeinen, aber auch hilflosen Eltern werden ordentlich kritisiert und eine junge Erzieherin kümmert sich rührend um die gute Ute, die wie ein Vorgriff aller späteren grundlos einsamen Wendersmänner erscheint. Ein Leid ist ihnen allen geschehen, an das sie sich nicht mehr so richtig erinnern können. Die zwei Teile von Aus der Familie der Panzerechsen wirken, allein schon wegen der besonders sentimentalen Gitarrenmusik à la Ry Cooder, wie Vorläufer von Paris Texas.

Vielen Filmfreunden wird bereits der Name des berühmten Regisseurs genügen, um Spaß an all seinen Filmen zu haben. »Ich weiß nicht, ob ich's auch schön gefunden hätte, wenn ich nicht gewußt hätte, daß es von Wenders ist«, meinte eine Journalistin nach der Pressevorführung. All die anderen erinnern sich lieber an die eigenen Geschichten und kramen die alten Tagebücher noch einmal hervor. Detlef Kuhlbrodt

Kurzfilme von Wim Wenders, ab heute in der Filmbühne, im Notausgang, Tivoli und Babylon (Mitte). Termine siehe im Tagesprogramm.