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Eine Stadt sieht kieselrot

■ Gesundheitliche Folgen der Dioxinschlacke „Kieselrot“ noch völlig unerforscht

Auch nach zwei Stunden war die Ratlosigkeit nicht gewichen. Gut 100 NutzerInnen der Sport- und Bolzplätze, die wegen der dioxinverseuchten Schlacke „Kieselrot“ in Bremen zur Zeit gesperrt sind, waren am Dienstag abend ins Konsul-Hackfeld-Haus gekommen. Dort sollten sie von der Gesundheits- und Umweltbehörde über gesundheitliche Folgen und Schutzmaßnahmen informiert werden. Ergebnis der Veranstaltung: Die Behörden sind ratlos.

Kontaminationen zwischen 50.000 und 100.000 Nanogramm Seveso-Dioxin pro Kilogramm Boden haben die letzten Bremer Messungen auf kieselrot-verseuchten Plätzen zu Tage gefördert. Der Abfallspezialist der Umweltsenatorin, Adolf Pösel, konnte nur die Schultern zucken, als er gefragt wurde, was mit den 12 Hektar verseuchter Flächen geschehen soll. „Ein ähnliches Entsorgungsproblem hat es noch nicht gegeben. Wir gehen davon aus, daß in der ganzen Bundesrepublik mehrere Millionen Kubikmeter hochgiftiger Schlacke entsorgt werden müssen.“

In Bremen sei die dioxinverseuchte Schlacke nur in den Jahren 1960 bis 1965 verbaut worden, deshalb sei die Belastung nicht so stark wie in anderen Bundesländern. Aber: Die Flächen, bei denen Verwehungsgefahr und Kontaminierungsrisiken nach wie vor gegeben seien, müssen geschlosssen bleiben.

Ähnlich vage wie das Entsorgungskonzept waren die Auskünfte der Ärzte. Der Toxikologe Ludwig Müller vom Hauptgesundheitsamt kannte zwar alle 210 vorkommenden Dioxine. Welche gesundheitlichen Folgen das eine in Kieselrot vorkommende hat, vermochte aber auch er nicht zu sagen. „Das Problem der Dioxine ist, daß sie im menschlichen Körper sehr schlecht abgebaut werden.“ Die unmittelbare Kontamination durch das Seveso-Dioxin im Kieselrot ruft Nerven- und Leberstörungen hervor, reizt die Atemwege, schwächt die Immunabwehr und fördert das Krebsrisiko. Welche Dosen zu welchen Gesundheitsgefährdungen führen, ist bislang aber völlig unerforscht, obwohl Dioxin als Gift seit Ende des letzten Jahrhunderts bekannt ist.

Da half es den ZuhörerInnen auch wenig, daß sie von der Biologin Ute Zolondek erklärt bekamen, über welche Wege das Dioxin in den menschlichen Körper gelangt. Nämlich zu zehn Prozent über die Luft und zu neunzig Prozent über die Nahrung. Obst und Gemüse aus kontaminierten Böden und Fisch aus belasteten Gewässern sind die Hauptquellen der menschlichen Dioxinaufnahme. Die Biologin sah sich darauf mit den Fragen des echten Lebens konfrontiert: Manfred Wiegand, Leiter der Jugendvollzugsanstalt Blockland, wollte von der Biologin wissen, ob seinen Bediensteten guten Gewissens weiter erlauben könne, im anstaltseigenen Graben zu fischen. Übrigens: Er kann nicht.

Wie überfordert die WissenschaftlerInnen derzeit mit der Einschätzung der Dioxinfolgen sind, machte der Vortrag von Norbert Schmacke deutlich. Schmacke ist Arzt beim Hauptgesundheitsamt und warnte eindringlich vor übereilten Reaktionen und hemmungsloser Meßwut. „Wir können zwar eine Blutspielgelanalyse machen, aber was soll die bringen: Wir sind derzeit nicht in der Lage, den Menschen irgendetwas zu raten.“ In Bremen seien zur Zeit keine akuten Vergiftungsfälle bekannt, meinte der Arzt: „Ich persönlich glaube, daß hier in Bremen nicht mit erheblichen Belastungen zu rechnen ist“, prognostizierte er.

Bremen wartet jetzt auf die Ergebnisse diverser Bundeskonferenzen. „Sobald wir wissen, wo wir dieses Zeug lagern können, werden wir sanieren“, erklärte Abfallfachmann Adolf Pösel. Der Senat werde das nötige Geld zur Verfügung stellen. Ein Wort des Trostes hatte Pösel auch noch für seine ZuhörerInnen: „Teilsperrung, das heißt doch Teilnutzung“. mad

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