: „Deutschland, Deutschland!“
Bundestrainer Heinz Ostermann errang bei den 34. Ringer-Europameisterschaften im freien Stil in der Stuttgarter Schleyer-Halle mit Schwarz-Rot-Gold-Taktik einen Erfolg auf der ganzen Linie ■ Auf der Matte Peter Unfried
„Wir Deutschen“, hatte Ringerbundestrainer Heinz Ostermann im Vorfeld dieser Kontinentalkämpfe auf heimischen Matten doziert, „neigen ja zuweilen dazu, die Möglichkeiten eines Heimvorteils zu unterlaufen.“ Aber doch nicht in Stuttgart, Deutschlands (un)heimlicher Sporthauptstadt, Heiiiiiinz! Hier lief nach der „Enttäuschung“ von Aschaffenburg bei der Griechisch-römischen Europameisterschaft (lasche Fans, wenig Stimmung, kaum Medaillen) alles nach Plan.
Zehn gesamtdeutsche Modellathleten waren ausgesandt, Ruhm und Medaillen zu holen. Sechs, nämlich Reiner Heugabel (Mömbris), Stanislaw Kaczmarek (Schifferstadt), Georg Schwabenland (Wiesental), Alexander Leipold (Goldbach) sowie die ostdeutschen Titelverteidiger Hans Gstöttner und Andreas Schröder (Aalen) erreichten die Finals. Nur die UdSSR schaffte mehr. Drei rangen um Bronze und nur einer, der Reilinger Gerhard Weber, rang nur nach Luft.
Ein totaler Erfolg also, und das pünktlichst zum „Hundertjährigen“ des Deutschen Ringerbundes (DRB), der mit seinen 85.000 Mitgliedern und 546 Vereinen derzeit mächtig strampelt, um aus dem Schatten anderer Sportarten zu treten. Möglich gemacht durch die geniale Strategie des Taktikers Ostermann, der wegen Personalmangel nicht nur die Athleten sondern auch die Öffentlichkeitsarbeit unter sich hat. Also verfaßte Heinz ein Flugblatt, in dem er „Ringer-Deutschland“ dazu aufrief, als Fanclub seinen Jungs mit dem bedeutungsschwangeren und relativ simpel zu memorierenden „Deutschland, Deutschland, Deutschland“ den öligen Muskelrücken zu stärken.
Ein Wunsch, dem die aus Aalen, Goldbach und den anderen Hochburgen angereisten Experten gerne nachkamen. Wenn's nur immer so einfach gewesen wäre wie im Falle des Papiergewichtlers Reiner Heugabel, der sowohl gegen den Türken Sükrüoglu als auch gegen den Sowjetrussen Orudjew einen Rückstand in allerletzter Sekunde in einen Sieg umwandelte. Er hüpfte wie ein Gummiball, verdoppelte fast seine 1,48 Meter Körpergröße — und die Halle wurde zu einem Tollhaus. Schwarz-Rot-Gold wie der Ostermannsche Aufruf flatterten die Fahnen und schwarz-rot-gold-kernig wie die Haselnuß begleitete ein „Deutschland, Deutschland“ den enthusiastischen Heugabel bei seinen diversen Jubel- und Ehrenrunden.
Klar, „das ist eine Kampfsportart, da gibt's keinen so dezenten Beifall wie beim Ballett“ (Ostermann). Aber außer diesem Beifall gibt es fast nichts. Die „leistungsbezogene Kostenerstattung“ für einen Europameistertitel beträgt zwischen 3.000 und 4.000 Mark und setzt monatelang übelste Schinderei voraus. Denn Ringen ist wie richtiges Leben: Zu- und Abnehmen, der ewige Kampf ums Idealgewicht, kaum einer eignet sich zu Werbezwecken. Die Ringer sind alle etwas unscheinbar und fallen kaum auf, wenn sie unbelästigt durch die Schleyer-Halle spazieren. Dabei könnte man sich die Kleinen gut als Vermittler von Schlankheitskuren und Kindermode vorstellen, die großen Dicken könnten Kraftfutter, Gleit- und Muskelöle, Übergrößenmode und Hanteln an Mann und Frau bringen.
Das wär's doch für den Neu-Aalener Superschwergewichtler Andreas Schröder, ein zehnfacher Medaillengewinner bei internationalen Championaten. Real existiert dessen Familie aber von der mickrigen Arbeitslosenunterstützung in Jena, gerungen (und gezahlt) wird in Aaalen erst wieder im Herbst. Wäre Schröder zum Beispiel Türke, hätte er für seine Finalteilnahme 16.000 Märker einstecken dürfen. So verehren die ihre Kraftmeier. Doch was zählt in diesen Tagen schon schnöder Mammon gegen die Erfahrung eines patriotischen „Deutschland, Deutschland, Deutschland“-Orkans, wie sie dem Kfz-Mechaniker gestern nachmittag im Finale zuteil wurde?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen