piwik no script img

Die Unfähigkeit zur Trauer

■ Das ungeheuerliche Sterben in Bangladesch bewirkt nur Amnesie und Fatalismus

Die Unfähigkeit zur Trauer Das ungeheuerliche Sterben in Bangladesch bewirkt nur Amnesie und Fatalismus

Daß das Sterben dadurch erträglicher wird, indem eine humane Gesellschaft den Verstorbenen im Andenken und in der Trauer weiterleben läßt, ist einer der tröstlichen psychologischen Mechanismen der Überlebenden. Die Opfer des Wirbelsturms in Bangladesch hingegen starben — und sterben noch immer — einen doppelten Tod: den gewaltsamen ihrer physischen Existenz und den symbolischen des raschen Vergessens und Verdrängens bei den Überlebenden. Im gleichen Maße, wie sich die Zahlen der Opfer erhöhten und immer mehr gerundet wurden — von 1.300 stiegen sie schließlich auf „Hunderttausende“ —, in dem selben Maße reduziert sich der Schrecken und werden Leid und Tod zu einer abstrakten Größe.

Dies mag vielleicht nicht einmal ein Mangel an Mitgefühl als vielmehr Selbstschutz der Person sein, die sonst an der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse zu zerbrechen drohte. Im Falle Bangladesch scheint man aber relativ rasch zu gefährlichen Erkenntnissen zu kommen. Das Land sei sowieso ein permanentes Desaster, und ein Wirbelsturm, eine Hungersnot, eine Epidemie seien nur die — fast mit Erleichterung aufgenommene — Bestätigung dafür, daß, wo die Menschen ihrer nicht Herr würden, eben die Natur die Frage der Bevölkerungsexplosion in die Hand nehme. Diese Position vertrat der Bevölkerungstheoretiker Malthus, demzufolge Kriege und Katastrophen das Wachstum regulieren. Die sogenannten „Natur“-Ereignisse können aber nur deshalb ihre katastrophale Wirkung entfalten, weil Armut und Überbevölkerung die Menschen dazu zwingen, auf lebensgefährdenden Inseln zu wohnen, in Holzschachteln zu hausen und mit kranken und unterernährten Körpern zu existieren. Bangladesch verliert alle paar Jahre Hunderttausende von Menschen in Katastrophen, nicht zu reden von den tödlichen Folgen des alltäglichen Mangels an Nahrung und Arbeit. Eine Katastrophe vermag eben nicht die Balance zwischen Natur und Lebensraum wiederherzustellen.

In dreißig Jahren jedenfalls werden in einem Land von der doppelten Größe der Schweiz, statt der heutigen 115 Millionen, 230 Millionen Menschen leben. Die „Natur“-Katastrophen und mit ihnen die Zahl der Toten werden in Bangladesch mit Sicherheit in dem Maß steigen, wie die demographische Fertilität zunehmen wird. Die Inseln vor der Meghna-Mündung, die mit Tausenden ihrer Einwohner im Meer versanken, werden in kurzer Zeit wieder auftauchen, und bald mit mehr Menschen als je zuvor beladen sein. Der gewaltsame Tod ist diesen Menschen sicher. So sicher wie die immer rasantere Amnesie in unseren Köpfen, da wir mit der Maßlosigkeit und Ungeheuerlichkeit dieser menschengemachten „Natur“-Katastrophen nicht mehr zurechtkommen. Bernard Imhasly, Neu Delhi

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen