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Die Lektion von Greifswald

Noch vor einem Jahr stand das Atomkraftwerk von Greifswald im Mittelpunkt heftiger Diskussionen, warnten dänische, schwedische, niederländische und Bonner Politiker vor einem neuen Tschernobyl in Mitteleuropa. Als dann im Dezember der letzte Block vom Netz ging, wurde es still um die Energiezentrale an der Ostsee. War dies schon die Grabesstille? Oder gibt es eine Zukunft für den Energiestandort in Vorpommern? Die Pläne für einen neuen Atomreaktor spielen in den Sanierungskonzepten jedenfall nur eine Nebenrolle  ■ VONMANFREDKRIENER

Von der Ostsee bläst ein milder Wind herüber. Die Frühlingssonne hat das riesige Werksgelände in ein versöhnlich-warmes Licht getaucht. Doch an diesem Ort können selbst Sonnenstrahlen den Besucher auf abwegige Gedanken bringen. Der werkseigene Parkplatz ist erstaunlich dicht besetzt. Selbst zu jenen Zeiten, als Greifswald noch der unangefochtene „Energiegigant im Norden“ war und seine vier Atommeiler Ausdruck „unverbrüchlicher deutsch-sowjetischer Freundschaft“ — selbst damals war dieser Parkplatz nie so voll gewesen wie heute. Woher kommen diese vielen Autos bei mehr als 3.000 Kurzarbeitern, die meisten „auf Null“? Die Antwort ist verblüffend einfach. Weder spektakuläre Baupläne für neue Reaktoren und neue Arbeitsplätze, noch andere Sanierungskonzepte haben den Platz mit Blech gefüllt, sondern einzig das bundesdeutsche Steuerrecht. Seitdem der Weg zur Arbeit steuerlich absetzbar ist, fährt keiner mehr mit der Bahn, deren Gleise direkt vor dem Kraftwerksgelände vorbeiführen. Vor zwei Jahren, als hier noch mehr als 6.000 hochbezahlte Atomwerker in Arbeit und Brot standen, war der Parkplatz groß genug. Heute ist er bei nur noch knapp 2.000 aktiv Beschäftigten und 3.000 Kurzarbeitern zu klein geworden. Und dennoch käme niemand auf die glorreiche Idee, ihn zu vergrößern. Denn schon in wenigen Monaten könnte er dicke ausreichen, vielleicht sogar leer und trostlos das Ende verkünden.

Aber soweit ist es noch nicht. Denn noch will die neugegründete Energiewerke Nord AG (EWN), die Nachfolgerin des Kombinats „Bruno Leuschner“, um jeden Arbeitsplatz kämpfen, um den Erhalt des Energiestandortes Greifswald, um die Zukunft der noch verbliebenen 5.000 Beschäftigten. Es ist ein Kampf gegen die eigene Vergangenheit, gegen das Image der maroden Energiezentrale mit ihren fünf Reaktorinvaliden. Und es scheint ein für viele aussichtsloser Kampf zu werden, bei dem auch leidenschaftliche AKW- Gegner Mitgefühl für die Verlierer von Greifswald empfinden.

Viel zu lange hat sich die alte und neue Werksleitung an Illusionen festgeklammert und von der möglichen Rekonstruktion und Wiederinbetriebnahme der alten Reaktorblöcke geträumt. Davon ist jetzt kaum noch die Rede, denn ein „Investor“, der auch nur einen der fünf alten Meiler genehmigungsfähig umrüsten würde, ist weit und breit nicht in Sicht. Hier will sich niemand die Finger verbrennen. Die westdeutschen Energiekonzerne haben unmißverständlich signalisiert, daß sie — wenn überhaupt — dann nur mit einem ganz neuen und eigenen Atomkraftwerk an die Ostsee kommen werden. Schon beim großen DDR- Stromvertrag haben sie Greifswald „ganz bewußt ausgeschlossen“, wie der Betriebsrat enttäuscht feststellt. Schon damals hat die Angst vor den strahlenden Altlasten abgeschreckt. Aber nicht nur die Rekonstruktion der alten morschen Meiler, auch der Bau der geplanten neuen BlöckeV bis VIII scheint endgültig vom Tisch, nachdem die Treuhand ihre Finanzierung abgelehnt hat. Was nun?

Die Suche nach dem Rettungsanker

Dietmar Brauer, der Sprecher des Kraftwerks und Reiner Weber, der stellvertretende Vorsitzende des Betriebsrates, stellen das neue Überlebensprogramm der EWN vor. „Präzisierung der Unternehmensstrategie“ nennt sich das, was man wohl als die verzweifelte Suche nach einem letzten Strohhalm übersetzen muß. Aber immerhin: Der lang vermißte Realismus ist endlich eingekehrt, und so will man sich jetzt vorrangig auf die Stillegung der alten Reaktoren konzentrieren. Und dies ist ein nicht nur in Europa einmaliges Projekt. Ein Atomkraftwerk „kann man nicht einfach abschalten und die Türe zumachen“, sagt Erwin Brauer. Wie wahr: Doch bis auf den kleinen Versuchsreaktor im bayerischen Niederaichbach, an dem schon seit Jahren mit bisher höchst bescheidenem Erfolg die Stillegung ausprobiert wird, gibt es keinerlei Erfahrungen bei dem waghalsigen Versuch, einen Atomstandort wieder in eine grüne Wiese zu verwandeln. Nicht wenige Atomkritiker glauben, daß gerade der Abriß der strahlenden Ruinen zum eigentlichen Fiasko der Atomwirtschaft werden könnte mit riesigen, bisher völlig unterschätzten Kosten und kaum übersehbaren technischen Problemen. Und jetzt gleich fünf ramponierte Reaktoren auf einmal?

Die Greifswalder Atomwerker wissen, daß sie sich auf ein neues Terrain wagen, aber sie sehen gerade darin ihre Chance. „Wir können hier mit der Stillegung einmalige Erfahrungen sammeln“, glaubt der EWN- Sprecher, und ein wenig denkt er dabei wohl auch an das Ende dieses Jahrzehnts, wenn hierzulande gleich eine ganze Reihe von Atomkraftwerken demontiert werden müssen, wenn Know-how und praktische Erfahrungen bitter nötig sind. Die Energiewerke Nord also als neues bundesweites atomares Beerdigungsunternehmen?

Zunächst geht es um die Stilllegung der eigenen Reaktoren. Fünfzehn, 20, vielleicht 25 Jahre wird diese Operation dauern. Und schon kursieren zweistellige Milliardenbeträge über die Kosten dieses aufwendigen Manövers. Die Treuhand soll sie bezahlen. Aber jetzt muß diese Stilllegung erst einmal beantragt und genehmigt werden. Und dabei muß vor allem die Sicherheit des Stillegungskonzepts und die unbedingte Zuverlässigkeit des ausführenden Unternehmens geprüft werden. Spätestens an dieser Stelle wird die EWN von ihrer Vergangenheit eingeholt. Kann den „Greifswalder Schrottverwaltern“, wie sie die taz genannt hat, jene Zuverlässigkeit beschieden werden, die das Atomgesetz von ihnen verlangt? Zumindest eine Grundvoraussetzung dafür ist erfüllt: Nachdem das langjährige Greifswalder Führungsduo Reiner Lehmann und Wolfgang Brune noch im vergangenen Jahr vom damaligen DDR-Umweltminister Steinberg gefeuert wurde, ist zumindest die Leitung des Kraftwerks neu besetzt, die Kontinuität zur alten Pannen-Wirtschaft formal gebrochen. Aber demonstriert nicht auch die neue Direktion mit Vorstandschef Heinz Drews an der Spitze das alte Denken? Eine Kostprobe: „Die KKW-Blöcke mit sowjetischen Druckwasserreaktoren erwiesen sich als stabile und ökonomische Anlagen“, hieß es noch im Dezember in einer Erklärung der Werksleitung, als endlich der letzte Meiler wegen massiver Sicherheitsbedenken abgeschaltet wurde. Und vollmundig weiter: „Gefährdungen des nuklear sicheren Betriebes traten nicht auf.“ Brände, Pannen, Leckagen, gravierende Sicherheitsverstöße — alles nur geträumt?

Für Betriebsrat Reiner Weber steht dennoch fest, daß nur „unsere Leute“ die Stillegung machen. Er verläßt sich auf seinen sehr guten Eindruck, den er von Gesprächen mit dem Bonner Umweltminister Klaus Töpfer mitgebracht hat. „Töpfer unterstützt uns“, ist Weber fest überzeugt, zumal es unsinnig sei, anderes Personal für die Stillegung einzusetzen als diejenigen, die die Anlagen genau kennen. Dies sieht auch mancher Greifswald-Kritiker nicht anders, und so stehen denn die Chancen doch nicht so schlecht, daß zumindest die eigene Stillegung von der alten Greifswalder Mannschaft organisiert und durchgeführt wird. Etwa 1.300 Beschäftigten könnte dieser Langzeitjob ihren Arbeitsplatz sichern. Und die anderen 3.700 Atomwerker?

Erwin Brauer wechselt routiniert zum nächsten Punkt seines Überlebenskatalogs, und der enthält so viele neu anvisierte Unternehmensziele, daß er auf jeden Fall beruhigend wirkt. Aber wie realistisch sind diese Vorschläge? Die Chance Nummer zwei für den Energiestandort Greifswald sieht die EWN in einer Umrüstung des Kraftwerks auf konventionelle Energieträger. „Die Turbinen stehen lassen, und sie dann mit Erdgas oder Öl weiterbetreiben“, deutet Brauer die Richtung an. Großen Optimismus kann aber auch diese Lösung kaum verbreiten. Eher ernüchtert beschreiben der EWN-Sprecher und sein Betriebsrat diesen Ausweg. Zunächst soll ein Gutachten Kosten und technische Möglichkeiten der Umrüstung ausloten. Kompliziert und teuer wird sie allemal, und am Nuklearstandort Greifswald geht auch dies nicht ohne eine atomrechtliche Genehmigung und Sicherheitsprüfung ab. Immerhin: Die energietechnische Infrastruktur wäre vorhanden bis hin zum Verteilungsnetz. Etwa 150 bis 200 Arbeitsplätze pro Reaktorblock könnte ein konventioneller Betrieb retten. Und wenn er zustande käme, dann hätte er zumindest den Segen der örtlichen Bürgerinitiative. „Es wäre ihnen wirklich zu gönnen, daß wenigstens das klappt“, sorgt sich auch Rosmarie Poldrack, die Sprecherin der BI um die Zukunft der Greifswald-Belegschaft.

Ein Kernfusionsreaktor nach Greifswald?

Beinahe aussichtslos wirkt dagegen die Bewerbung der EWN um den Standort des zukünftigen europäischen Forschungsfusionsreaktors. Nicht nur daß man mit Garching einen innerdeutschen Konkurrenten hat, der seit Jahren in Kernfusion macht. Wer glaubt ernsthaft, daß sich die internationalen Forscher ausgerechnet hierher an die Ostsee versetzen lassen, ohne ein institutionelles und universitäres Umfeld? Erwin Brauer glaubt es nicht, aber es ist wenigstens ein Versuch, ein Stück Überlebenstraining, vielleicht auch nur Krisenaktionismus.

Überraschend weit hinten im Wunschkatalog der EWN taucht endlich jener Vorschlag auf, der in den letzten Wochen für heftigen Wirbel gesorgt hat: die Ankündigung der westdeutschen Atomindustrie, an den Standorten Greifswald und Stendal ein neues Atomkraftwerk zu errichten. Begeisterungsstürme in der Belegschaft konnte allerdings auch dieser Vorstoß nicht auslösen. Für die EWN ist klar, daß bei einem Neubau, sollte er politisch überhaupt durchsetzbar sein, der westdeutsche Konzern Siemens-KWU hauptsächlich „mit seinen eigenen Leuten“ bauen wird. Die KWU wartet seit mehr als einem Jahrzehnt auf einen neuen Großauftrag wie diesen. Außerdem „sind wir hauptsächlich ein Kernkraftwerksbetreiber“, sagt Dietmar Brauer, und bis das neue Kraftwerk betriebsbereit ist, werden mindestens zehn Jahre vergehen, „dann bin ich 55, wer nimmt mich dann noch?“.

Der Konzernsprecher will nicht in einen falschen Verdacht geraten. Er sei „selbstverständlich für die Kernenergie, von ganzem Herzen“, und ein Neubau sei gut für die Kernenergie, aber eben noch lange keine Lösung für Greifswald, wo bisher nicht einer, sondern fünf Reaktoren standen und drei weitere projektiert waren. Maximal 400 Arbeitsplätze könnte der Betrieb eines neuen Reaktors sichern, rechnet Betriebsrat Reiner Weber vor. 400 von 5.000. Dennoch wolle man die Baupläne unterstützen und in der öffentlichen Debatte Flagge zeigen. Daß der politische Streit um die Atomkraft für sie neu und ungewohnt ist, räumen die beiden Männer offen ein. „Zu alten SED-Zeiten hatte Greifswald einen hohen Stellenwert, jetzt müssen wir uns neu einordnen.“ Die ersten Leserbriefe im 'Greifswalder Tageblatt‘ mit heftigen Vorwürfen an die Adresse der örtlichen Bürgerinitiative wurden jedenfalls schon mal geschrieben. Dabei war man nicht gerade zimperlich: „Nicht der Kraftwerksstandort Lubmin/Greifswald hält die Investoren fern, sondern die durch Sie, Frau Dr. Poldrack, geschürte Kampagne gegen Kernkraftwerke“, giftete der Betriebsrat. Die BI könne nur „angreifen und zerstören“, aber sie bringe „keine Arbeitsplätze, kein Brot und keine Existenzgrundlagen für die Familien in Vorpommern“.

Ganz andere Töne hörte man am vergangenen Donnerstag, als sich die Kontrahenten von Betriebsrat und Bürgerinitiative zu einer ersten gemeinsamen Diskussionsrunde Auge in Auge gegenübersaßen. Beinahe zu versöhnlich sei die Atmosphäre gewesen, beschreibt ein Ökopax die Stimmung in der Greifswalder Stadtbibliothek. Und es klingt nach aufrechter Empathie, wenn er Richtung Betriebsrat bedauernd hinzufügt: „Die sind psychisch am Nullpunkt angekommen.“

Und als der Kanzler nach Greifswald kam...

Neuen Mut, Hilfe und Ermunterung hatten sich die Greifswalder Atomwerker nicht zuletzt vom 10. Oktober 1990 erhofft, jenem Tag, als Bundeskanzler Helmut Kohl die Stadt besuchte. Er redete eine volle Stunde auf dem Marktplatz, sprach den sterbenden Regenwald im Amazonas an, das europäische Haus, die Renten, die Stasi und die Klimakatastrophe, doch über das drängendste Problem der Region, das Atomkraftwerk Greifswald, verlor er kein einziges Wort. Auch auf den Offenen Brief, den der Betriebsrat dem Redner damals übergab, ist bis heute keine Antwort aus Bonn eingetroffen. Die Enttäuschung über den Auftritt des Kanzlers steht Reiner Weber noch heute ins Gesicht geschrieben. Aber mit Kritik hält er sich zurück: „Wir arbeiten mit allen Parteien zusammen.“

Am 10. Oktober, als Kohl im Scheinwerferspot auf dem Marktplatz das große Ärmelaufkrempeln ausrief, um Vorpommern in eine blühende Landschaft zu verwandeln, standen auch die Mitglieder der Greifswalder Bürgerinitiative auf dem Marktplatz und hielten ihre Anti-Atom-Transparente in den Abendhimmel. „Wohin mit dem Atommüll?“, wollten sie den Kanzler fragen. Inzwischen fragen sie sich wie alle Greifswalder, was wohl aus der größten deutschen Atomzentrale vor ihrer Haustür werden soll. Rosmarie Poldrack, Ärztin, Mutter von vier Kindern und Vorsitzende der Initiative, begrüßt die Strategie der EWN, sich als Stillegungsunternehmen zu profilieren: „Jawohl, das sollen die tun, bis zur grünen Wiese, da hat niemand was dagegen.“ Aber bitte ganz stillegen. Auch eine mögliche Umrüstung der Atomanlage auf einen konventionellen Betrieb würde sie begrüßen. Aber bei jedem Neubau eines Atomkraftwerks und jeder Rekonstruktion der alten Meiler „werden wir keine Ruhe geben“.

Der Brisanz der drohenden Massenarbeitslosigkeit kann und will sich die Bürgerinitiave nicht entziehen. Aber darf man von ihr Lösungen erwarten, die selbst die Kraftwerksleitung nicht liefern kann? Ist dies nicht die alte schmerzhafte Lektion, daß nur umweltverträgliche Arbeitsplätze auf Dauer auch sichere Arbeitsplätze sind, die jetzt in Greifswald gelernt wird? Für mindestens 3.000 Beschäftigte wird diese Lehrstunde mit einer Nummer beim Arbeitsamt enden. Doch für die Region Greifswald bedeutet das Aus für den Atombetrieb trotz allem ein Stück Erleichterung. „Aber viele“, sagt Rosmarie Poldrack, „haben eben bis heute noch nicht begriffen, daß die Dinger wirklich gefährlich waren.“

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