: Vor den Augen anderer
■ Vivienne Newports „Retouche“ — Ein Tanzabend für Schauspieler
Die Tänzer stehen auf der Bühne und fixieren die Zuschauer, als wollten sie das Publikum einschüchtern. Vielleicht, damit es nicht protestiere, sollte es nicht bekommen, was es gemeinhin von der Inszenierung einer Choreographin erwartet. Es wird keinen Tanz geben, die Tänzer werden, nachdem sie von den Zuschauern ablassen, sich gegenseitig dem Terror des Blickes aussetzen.
Wenn Vivienne Newports Retouche beginnt, arrangieren sich die Tänzer wechselweise in einem Kasten, dem Innern einer Kamera, und bemühen sich um eine fotogene Haltung. Die Welt ist in der Kamera, und in ihr spielt jeder inbrünstig das Spiel vom Sehen und Gesehenwerden. Das Gesicht eine Grimasse und auf der Stirn Schweiß, das Objektiv führt nach draußen. Einer stellt sich in Pose, ein anderer ermutigt ihn im Tone des professionellen Fotografen: „Ja, bleib so. Das ist sehr schön. Könntest du vielleicht noch etwas höher.“
Die Mühe um die korrekte Pose gerät zum Slapstick. Immer wieder sieht es so aus, als suche Vivienne Newport zusammen mit ihren zwei Frauen und drei Männern nach tänzerischen Ausdrucksmitteln für ihr Blick-Thema. Man formt mit den Händen das Objektiv-Fenster des Fotografen, mit dem ein Ausschnitt dessen hergestellt wird, was zum Bild werden soll. Die Bewegungen entwickeln eigene Dynamik, könnten variiert und tänzerisch weitergeführt werden. Doch es bleibt bei kurzen Bewegungsstudien, selbst wenn die fünf Tänzer sich zu einer der seltenen Formationen treffen.
„Musik Charlie Chaplin und Hollywood“, heißt es im Programmheft. Chaplins Kompositionen für Klavier/Violine und die melodramatischen Streichersätze aus der Hollywoodwelt des Wilden Westens sind allerdings kein Anlaß für tänzerische Erkundungen der Blick-Welt. Die musikalische Folie soll lediglich Atmosphäre erzeugen. Man meint den huten Revolverhelden wieder in die Landschaft reiten zu sehen, nachdem er die Stadt vom bösen Revolverhelden befreit hat. Dann ruft das geheimnisvolle Zwirbeln der Geigen das Bild des armen unschuldigen Mädchens hervor. Es steigt zögernd die Stufen der Treppe hinauf und ahnt bereits, daß im Dunkel das Monster lauert. Man erinnert sich eines leinwandfüllenden Gesichts aus der Hollywoodwelt der inszenierten Haltungen. Vivienne Newport klinkt in ihren szenischen Abend immer wieder Standbilder aus dieser Welt der schreck- und lustverzerrten Mienen ein, heroische Posen, die gestelzte Liebe im Tango-Schritt und die Haltung des hehren Rechtsanwaltes während seines Plädoyers. Bilder sind das, unzählige Male hochglänzend auf Zelluloid gesehen. In der Inszenierung von Vivienne Newport geht es um den Herstellungsprozeß, nicht um die gelungene Pose; um die Selbstinszenierung während der Inszenierung; um den Schweiß, der dabei fließt; um das Blick-Geschäft vor den Augen anderer.
Bilder für Tanz und Schauspiel nennt Vivienne Newport ihr Retouche im Untertitel — das Wort „Tanz“ möchte man ihr streichen. Denn ihre Reihung kurzer szenischer Entwürfe unter Verwendung von Textfetzen und angerissenen Dialogen etabliert sich auf der Bühne als eigenständige Kunstform am Rande dessen, was den Namen „Tanztheater“ trägt, ist eine schauspielerische Verdichtung heutiger Verkrampfungen und Befindlichkeiten. Was dabei entsteht, erinnert an Projektarbeiten, wie sie derzeit im Frankfurter Theater am Turm von den unterschiedlichsten Regisseuren als Erkundungen eines thematischen Vorhabens unternommen werden. Vivienne Newport arbeitete lange am Theater am Turm, bevor sie sich mit ihrer Truppe an das Sprechtheater der Tübinger Landesbühne angliederte. Zweck der Übung: „Tänzer und Schauspieler sollen ausprobieren, was sie voneinander und miteinander haben können“, heißt es im Tübinger Programmheft. Bisher scheinen die Tänzer in Tübingen mehr von den Schauspielern „gehabt“ zu haben, so viel, daß sie schier zu Schauspielern wurden. Wenn einer von ihnen also seufzend meint, diese Tanzerei mache ihn ganz fertig, kann er das nur ironisch meinen. Vielleicht aber erinnert er sich an die Zeit, als er noch tanzte. Jürgen Berger
Vivienne Newport: Retouche . Raum: Andreas Jasny. Mit Ingrid Kerec, Jacqueline Moro, Hubert Harzer, Ernst Sigrist, Uwe Volkert. Premiere war anläßlich der Baden-Württembergischen Theatertage in Bruchsal. Nächste Aufführungen im Landestheater Tübingen: 14., 15. und 26. Mai.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen