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„Radikal, das genügt doch!“

■ Disput zwischen Theo Pinkus und dem Philosophen Herbert Marcuse im Jahre 1974

Marcuse: Die Bereitschaft zur Veränderung muß doch von da kommen und organisiert werden, wo sie potentiell vorhanden ist. Für die Studenten in der Universität, für die Arbeiter im Betrieb, für die Frauen in der Berufsarbeit und im Haushalt, in den Wohnquartieren. Du sprichst von revolutionärer Tätigkeit. Ich würde in diesem Zusammenhang nicht davon sprechen. Für mich ist revolutionäre Tätigkeit die Aktion revolutionärer Massen.

Das, was wir machen, machen können, ist keine revolutionäre Tätigkeit. In einer gegenrevolutionären Situation — man kann nicht einmal von vorrevolutionären Kräften reden — sollte man eigentlich nicht von revolutionärer Tätigkeit sprechen. In den Ländern der Dritten Welt gibt es diese. Hier operieren mit den Massen verbundene Guerillas. Das ist eine revolutionäre Tätigkeit. Aber in einem hochentwickelten Industrieland von Stadtguerillas zu reden oder gar handeln zu wollen, ist Unsinn. Wer könnte heute, sagen wir einmal in Amerika oder auch in der Schweiz, wirklich revolutionäre Tätigkeit ausüben?

Pinkus: Du hast recht, aber es gibt doch nun mal Revolutionäre, und die müssen in einer nichtrevolutionären Situation wirken.

Marcuse: Ich würde sie als Radikale bezeichnen. Es mag unserer Eitelkeit wehtun, aber bestenfalls sind wir Radikale und keine Revolutionäre.

Pinkus: Sind denn der Bruch mit der bürgerlichen Welt und die sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen nicht revolutionäre Handlungen?

Marcuse: Ja, aber trotzdem bin ich nicht bereit zu akzeptieren, daß dieser Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft allein schon als revolutionär bezeichnet werden kann. Ein solcher Bruch kann sich auch in eine faschistische Richtung bewegen.

Pinkus: Wer aber zur Erkenntnis kommt, daß die Gesellschaft mit dem Profit im Mittelpunkt, der die menschlichen Beziehungen und die Umwelt zerstört, radikal verändert werden muß — das heißt bis an die Wurzel —, wer daraus die Konsequenzen in seinem Handeln zieht, ist der nicht revolutionär?

Marcuse: Auch dann bleibe ich bei dem, was ich eben gesagt habe.

Pinkus: Aber in deinen Schriften nimmst du doch eine revolutionäre Haltung ein?

Marcuse: Nein, radikal, das genügt doch.

Aus der Biographie von Rudolf M. Lüscher/Werner Schweizer: Amalie und Theo Pinkus-De Sassi, Leben im Widerspruch, Limmat Verlag Genossenschaft, Zürich 1987

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