: Die Sprache der Pferdehändler
Die Goethe-Herausgabe im Hause Beck ■ Von Georg Blume
Im Glanze Goethes feierte der C.H.Beck- Verlag sein 225jähriges Bestehen. Zum großen Jubiläum hatte das renommierte Münchner Verlagshaus die schon klassisch zu nennende „Hamburger Ausgabe“ von Goethes Briefen neu verlegt und sich damit ein dem Anlaß würdiges Geschenk bereitet. Es war dann auch ein „rauschendes Fest, mit viel schönen Reden, das sich einen ganzen Tag lang auf mehreren Münchner Schauplätzen abspielte“, wie die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ am Tag nach dem Ereignis berichtete. Das war im Herbst 1988.
Zwei Jahre später fand sich zunächst im 'Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel‘, dann in der Hamburger Wochenzeitung 'Die Zeit‘ unter der üblichen Werbung für die Hamburger Goethe-Ausgabe der folgende „Hinweis“ des Beck-Verlages: „Wir bitten Sie, bei der Briefausgabe die gegenüber früheren Titelnennungen richtiggestellten Angaben zur Herausgeberschaft zu beachten.“ Ein leicht überflogener, vielleicht etwas zu leicht überflogener, kleingedruckter Satz. Was gibt es gerade an der Hamburger Ausgabe von Goethes Briefen, diesem hoch angesehenen Editionswerk, jedem Germanisten hinlänglich bekannt und von der 'FAZ‘ nicht umsonst als „Glanzlicht“ des Beck-Verlages gewürdigt, was kann es also an dieser seit 30 Jahren gepriesenen und zum 225jährigen Jubiläum erneut gefeierten Klassikerausgabe heute Neues zu „beachten“ oder gar „richtigzustellen“ geben? So gesehen mußte die Antwort vielversprechend lauten.
Der Besuch einer beliebigen westdeutschen Stadtbibliothek gereicht zu einem ersten Befund. Denn dort findet sich in der Regel die Originalausgabe der Hamburger Ausgabe. Blenden wir also kurz zurück. Als der Christian Wegner Verlag im Sommer 1960 in der Einladung zur Subskrikption Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe in vier Bänden ankündigt, nennt er zwei Herausgeber im Ausgabentitel. Genauso hält er es zwei Jahre später: „Herausgegeben von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe.“ In den vier Bänden selbst werden die Herausgeber spezifiziert (Bd.1 „herausgegeben von Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von Bodo Morawe“, Bd.2 und 4 „herausgegeben von Karl Robert Mandelkow“, Bd.3 „herausgegeben von Bodo Morawe“); in allen Bibliographien und in den Standardwerken der Goetheforschung werden beide als Herausgeber genannt. Trotzdem heißt es im Titel der Beck'schen Neuauflage von 1988: Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Hamburger Ausgabe in sechs Bänden, Herausgegeben von Karl Robert Mandelkow. Zweimal also hatte der Beck-Verlag eingegriffen. Aus der vierbändigen Ausgabe war eine sechsbändige geworden, und als Herausgeber erschien nur noch eine Person, der (laut Katalog) „bedeutende Goetheforscher Karl Robert Mandelkow“, während die zweite im Originaltitel erwähnte Person, ein gewisser Dr.Bodo Morawe, nicht mehr genannt wurde. Wer war dieser zweite Mann? Hatte man ihn schlicht zu unterschlagen versucht? Oder war dem Beck-Verlag fahrlässig eine Panne unterlaufen?
Doch wer überhaupt sind diese Leute, die in bedeutenden Verlagen bedeutende Klassikerausgaben herausgeben? Professor Mandelkow, zweifellos eine anerkannte deutsche Goethe-Autorität, ließ sich im Jahr des Beck'schen Jubiläums zu einer Unwissenschaftlichen Nachschrift zur Hamburger Ausgabe der Briefe von und an Goethe verleiten. Als Germanist, so schreibt dort Mandelkow, ereilte ihn vor 30 Jahren „ein anscheinend unentrinnbares und zugleich typisch deutsches Schicksal: Heimkehr zu Goethe“. Doch diese Heimkehr, die für Mandelkow im Editionswerk von den Briefen Goethes besteht, gelingt ihm nach eigener Auskunft nicht allein, sondern nur in Begleitung eines „Adoptivsohnes“. So nennt Mandelkow nachträglich den zweiten Herausgheber der Hamburger Briefausgabe, Bodo Morawe. Der war damals ein junger Student und Mandelkow ein junger Assistent. Gemeinsam vollbrachten sie freilich eine Sache, die der angesehene Berliner Goethe-Forscher und Jean Paul-Herausgeber Professor Norbert Miller schlicht als „säkular“, also als Jahrhundertwerk bezeichnet. Sein Kollege Friedrich Kemp spricht von einer „bewundernswürdig editierten und kommentierten Ausgabe“. Damit übertreibt er kaum.
Mandelkow und Morawe holten Goethe, diesen ersten Aufklärer der deutschen Nation, vom Denkmalsockel zurück ins Zwischenmenschliche. Sie präsentierten seine Briefe nicht etwa als Vollendung eines Wunderwerkes, stattdessen stellten sie schlicht und einfach fest, daß auch der große Johann Wolfgang von Goethe dem „von Cicero verwirklichten Gesetz des Briefes“ folgt, welches „in der Anpassung an den jeweiligen Adressaten und in den daraus sich ergebenden Stil- und Tonvarianten“ besteht (nach der Definition des Romanisten Hugo Friedrichs). Anders gesagt: Nicht als allwissende Aufklärungsinstanz, sondern als Bruder Freund und Liebhaber schrieb Goethe seine Briefe — für die eingeschliffene deutsche Goethe- Wissenschaft war das auch 200 Jahre nach Goethes Geburt noch eine Entdeckung. Morawe ist dann derjenige von den beiden Herausgebern, der mit Verweis auf Hans Magnus Enzensberger die eigentliche Pionierarbeit der Hamburger Briefausgabe erläutert: „[Unserer] Kommentarform entspricht die Einsicht, daß generelles, über den Fakten stehendes Deuten allzuleicht der Unverbindlichkeit verfällt und daß es gilt, gerade ,den Widerstand des Besonderen nicht zu scheuen‘.“ Weil Mandelkow und Morawe tatsächlich alle Scheu von den so besonderen, gerade erst in seinen Briefen entäußerten menschlichen Leidenschaften Goethes ablegten und die Beziehungen des Dichters im einzelnen rekonstruierten, erlangte ihre Hamburger Briefausgabe schließlich den Ruhm, der ihr heute allseits zuteil wird.
Zunächst schien das Goethesche Glück den Münchner Verlegern hold. Mathias Wegner, der damalige Leiter des in der Nachkriegszeit hochgelobten Christian Wegner Verlages, hatte sich bei der Auflösung seines Familienbetriebs 1972 entschieden, sein, wie er schrieb, „angesehenstes verlegerisches Unternehmen, die Hamburger Goethe- Ausgabe“, in die Hände des Beck- Verlages zu geben. In München war das ein willkommenes Geschenk. Noch 16 Jahre später betrachtet Verlagschef Wolfgang Beck in seiner Geleitschrift zum 225jährigen Jubiläum des Hauses die Übernahme der Hamburger Ausgabe als „Glücksfall“. Das Glück bestand darin, daß der Beck-Verlag, dem zuvor der Ruf des führenden juristischen Verlagshauses der Bundesrepublik vorauseilte, nun auch noch einen Lorbeerkranz der klassischen deutschen Literatur gewann. Dafür hatte Verleger Beck vorzeitig beim Verleger Wegner gelobt, daß der Beck-Verlag die Hamburger Goethe-Ausgabe „in gleicher Weise, das heißt also unter gleichem Namen“ (so Wegner 1972) weiterführe. Sämtliche Verträge mit den Autoren beziehungsweise den Herausgebern wurden wortgleich vom Beck-Verlag übernommen.
Wolfgang Beck mußte deshalb wissen, daß er gegen die vom Christian Wegner Verlag bereits Anfang der sechziger Jahre gezeichneten Abmachungen verstieß, als er die Hamburger Briefausgabe ohne den zweiten Herausgebernamen Bodo Morawe im Jubiläumsjahr 1988 neu verlegte. Das Lektorat scheute sich darüberhinaus nicht, der seit je vierbändigen Goetheschen Briefausgabe aus verkaufspsychologischen Gründen nachträglich zwei weitere Bände der Briefe an Goethe einzuverleiben — nach Auskunft Mandelkows ein „Nebenprodukt“.
Der eigentliche Skandal beginnt in dem Augenblick, als Morawe im Mai 1988, nach Erscheinen des Beck'schen Neudrucks und vier Monate vor der Auslieferung der dtv-Lizenzausgabe, die falsche Herausgeberbezeichnung moniert und den Cheflektor des Hauses Beck in einem detaillierten Schreiben um die erforderliche Berichtigung bittet. Morawe wörtlich: „Ich protestiere auf das entschiedenste gegen diese nachträgliche Änderung, die einseitig meine Rechte verletzt.“ Zwar gibt Cheflektor Wieckenberg viermal in vier Monaten die schriftliche Zusage, die Sache „in allen Werbemitteln“ und zwar „sofort“ zu berichtigen. Gleichwohl wird die falsche Herausgeberbezeichnung in Zeitungsanzeigen und Prospekten mit einer Gesamtauflage von 5,5 Millionen Exemplaren verbreitet. Obwohl der Mitherausgeber Morawe den Verlag insgesamt achtmal innerhalb von zwei Jahren auffordert, die notwendige Korrektur in den beiden Ausgaben vorzunehmen, wird er vom Verlagsmanagement immer wieder abgeschmettert. Zunächst beruft sich der Cheflektor darauf, daß die Ausgabe bereits „gedruckt“, dann, daß sie schon „verpackt“, schließlich, daß die Forderungen Morawes „unangemessen und vollkommen überzogen“ seien. Am Ende wird der Mitherausgeber mit dem angeblichen Grundsatz des Deutschen Taschenbuchverlags genarrt, „daß Taschenbücher vor ihrer Verbreitung nicht geöffnet werden dürfen, und zwar weder zum Zwecke des Einklebens noch zum Zwecke des Einlegens von Berichtigungsblättern“. Erst ein Brief des dtv-Verlegers Dr.Wolfram Göbel beendet den in der Chefetage des Hauses Beck inszenierten Spuks. Der nämlich weist jede Mitverantwortung am Erscheinen seiner falsch betitelten Goethe-Ausgabe zurück und schreibt, daß ihm als Lizenznummer konkrete Maßnahmen und Entscheidungen nicht gestattet seien. Die alleinige Verantwortung, so macht Göbel damit klar, liegt beim Lizenzgeber und dtv-Mitbesitzer Wolfgang Beck.
„Der Unterschied zwischen einem Autor und einem Pferd besteht darin, daß das Pferd die Sprache der Pferdehändler nicht versteht.“ Derart urteilt Max Frisch über das Verhältnis zwischen Verleger und Autor. Wiederholt hat der Beck-Verlag seine pferdehändlerischen Eigenschaften im Umgang mit Bodo Morawe gezeigt. Das beginnt damit, daß ihm das Haus trotz seiner ausdrücklichen Bitte monatelang den angeforderten Lizenzvertrag vorenthält. Das endet dort, wo der Cheflektor und Literaturwissenschaftler Dr. Wieckenberg dem Mitherausgeber einer seit Jahrzehnten eingeführten Klassikerausgabe einzureden versucht, daß der Ausgabentitel „in diesem Fall überhaupt gar keine Rolle“ spielt.
Bodo Morawe, inzwischen Auslandskorrespondent des WDR-Hörfunks in Köln, beruft sich auf das Urheberpersönlichkeitsrecht und spricht von einer „Angelegenheit, für die es in der Geschichte der Goetheforschung und der Goethephilologie kein Beispiel gibt“. Tatsächlich erscheint die mit dem Verlag geführte Korrespondenz als eine Fundgrube für eine Fallstudie: Sie entwickelt sich von Brief zu Brief zu einem Lehrstück über den alltäglichen Mißbrauch von Verlags- und Wissenschaftsmacht und stellte gleichzeitig den Versuch dar, diesem Machtmißbrauch entgegenzutreten. Für den Betroffenen ist das keine ungetrübte Erfahrung. „Das Rollenangebot“, bemerkt Morawe, „ist natürlich reichhaltig. Sisyphos? David gegen Goliath? Michael Kohlhaas? Charly in den ,Modernen Zeiten‘? Undsoweiterundsofort... Wer als Einzelner gegen einen solchen Apparat antritt, macht am Ende auch immer eine etwas lächerliche Figur.“ Und der Goethe-Herausgeber fährt fort: „Trotzdem war ich fest überzeugt, daß in dem Verhalten des Verlags etwas Unzumutbares liegt, und daß man sich gegen diese Herausforderung zur Wehr setzen müßte.“ Ähnliche Erfahrungen machte vor nicht langer Zeit der Herausgeber Theodor W. Adornos und Walter Benjamins, Rolf Tiedemann, mit dem Suhrkamp Verlag. „Es gibt Umgangsformen, die kein Verleger gegenüber seinen Autoren ungestraft verletzten sollte“, schreibt Tiedemann in seiner „Abrechung“ mit Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. „Ein erfolgreicher Verleger mag über noch soviel Macht verfügen, irgendeine Rechtfertigung folgt daraus nicht, keine moralische und nicht einmal eine unternehmerische.“
Erst im Oktober 1990 erscheint im 'Börsenblatt‘, dem Verbandsorgan des deutschen Buchhandels, eine ausführliche Berichtigungsanzeige des Beck-Verlages. Erstmals wird dort der Branche und dem breiten Publikum gegenüber vom Verlag ausdrücklich „bedauert, daß die Ausgabe von Goethes Briefen (...) mit einer nicht korrekten und unvollständigen Herausgeberbezeichnung erschienen ist“. Auch hat Wolfgang Beck inzwischen befohlen, in die noch nicht an die Buchhandlungen ausgelieferten Exemplare der Hamburger Briefausgabe Berichtigungsblätter mit der richtigen Titelei einzukleben. Schließlich steht ein Vergleichsabschluß unmittelbar bevor. Das alles kann freilich den bereits entstandenen und immer noch fortwährenden Schaden am Ansehen der Hamburger Goethe-Ausgabe nicht aufwiegen. Denn die Abrechnung lautet wie folgt:
—zweieinhalb Jahre lang wurde die Hamburger Ausgabe von Goethes Briefen wider besseres Wissen des Verlages unter der falschen Titelei an den Buchhandel verkauft;
—erst jetzt soll die ebenfalls 1988 in Verantwortung des Beck-Verlages bei dtv erschienene Lizenzausgabe den eingeklebten Berichtigungszettel erhalten;
—keine der bereits an den Buchhandel ausgelieferten Ausgaben mit den falschen Angaben wurde bis heute vom Verlag zurückgezogen, nachdem bisher mindestens 85 Prozent der abgesetzten Exemplare unkorrigiert verkauft worden sind.
Der Verlag hat die Normen und Werte der Branche verletzt. Das Urheberpersönlichkeitsrecht und die Grundsätze wissenschaftlichen und bibliographischen Arbeitens mißachtet. In diesem Sinne erfüllt das Verhalten des Verlages die klassische Definition der soziologischen Skandalforschung: Ein Skandal ist ein anstößiges Verhalten, das sozial verbindliche Regeln verletzt, mit dem Einsatz von Machtmitteln verbunden ist und dem kritischen Blick der Öffentlichkeit ausweicht.
Für das Verhältnis zwischen Verleger und Autoren hat die Geschichte der Hamburger Goethe-Ausgabe exemplarische Bedeutung. Wenn es sich der hoch angesehene Beck-Verlag bereits bei seiner wertvollsten Edition ungestraft leisten kann, den Namen eines Mitautors (der Herausgeber wird im Verlagswesen mit einem Autor gleichgestellt) schlicht zu schlucken, dann wird es bald keine neuen Autoren mehr geben, sondern nur noch Verlagsprogramme. Man könnte die Autoren abschaffen, wenn nicht...
„Ohne Autoren keine Verlagsvergangenheit, keine Verlagszukunft und kein Jubiläum“, postuliert Wolfgang Beck in seiner Schrift zum 225jährigen Bestehen des Münchner Verlages. Diesen Worten ist der Verleger im Fall der Hamburger Ausgabe von Goethes Briefen bis heute manches schuldig geblieben. Nur einen könnte das freilich nicht überraschen. Damals nannte man die Verleger noch Buchhändler, doch Goethe wußte bereits: „Die Buchhändler sind all des Teufels, für sie muß es eine eigene Hölle geben.“
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