: Was wollen die denn noch?
■ Das Festival des Politischen Liedes im Wandel der Zeiten
Kommt, oh Freunde, und singt mit uns. Laßt uns über die Revolution reden, laßt uns die Grenzen vergessen. Das Proletariat hat kein Vaterland. Und doch braucht es manchmal einen Ort, wo es unter sich ist und mit befreundeten Klassen und Schichten kuscheln kann. Vor allem im Winter. Also kommt, Freunde, nach Berlin, Hauptstadt der DDR.
Als der Oktoberklub im Februar 1970 zu seiner Geburtstagsparty lädt, wird das Treiben dort von offizieller Seite argwöhnisch beobachtet. Sollten die langen Jahre des Kampfes gegen imperialistische Pseudokunst, gegen Beatmusik, lange Haare und Niethosen völlig vergebens gewesen sein? Sollte die junge Generation weiterhin durch Schrammelgitarren und wehleidige Gesänge von ihrer historischen Mission, dem Aufbau des Kommunismus, abgelenkt werden dürfen? Doch die Tage des Ultrastalinisten Ulbricht sind gezählt, die Bereitschaft zu einer vorsichtigen Öffnung nach innen und außen wächst. Als »Hauptaufgabe« gibt der von Erich Honecker inspirierte VIII. Parteitag der SED, die »allseitige Befriedigung der wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse des Volkes« an. Der größte Wunsch des neuen Staatslenkers — die Anerkennung der DDR als »geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft«. So fügt sich alles sehr günstig für die Idee von einem internationalen Festival. Günstiger, als es den Initiatoren recht sein dürfte. Doch die plötzlich von Oben gewährte Unterstützung, das viele Geld, das der Staat oder die Partei oder der Jugendverband oder wer auch immer lockermacht, läßt nur wenige mißtrauisch werden. Sie singen »Rote Lieder«, und dies ist ein sozialistisches Land — wo, bitteschön, besteht da ein Widerspruch?
So ergab es sich bald, daß das Festival mit der für den Realsozialismus typischen Janusköpfigkeit aufwarten konnte. Da gab es das Vorzeigefest fürs Fernsehen, funktionärsgerecht auf Linie achtend. Und es gab das wahre Festival, das der Barden und ihrer scharfzüngigen Lieder, das der unerschöpflichen Lebensfreunde und der unvergeßlichen Begegnungen. Natürlich erwuchsen daraus einige kleinere Konflikte. Doch nach Art des Außenhandels wurden diese durch Kompensationsgeschäfte geschlichtet. Gebt uns unsern Freund José aus Chile und wir geben euch dafür ein Liedchen, das die kollektive Weisheit des Politbüros preist. Davon hatten alle was und waren zufrieden.
Wie wichtig die Herrschenden das Festival nahmen, zeigt sich auch daran, daß es bald ein ganzjährig besetztes Festivalbüro gab. Die Kader dort bestellte der Zentralrat, der bezahlte sie auch. Diese Hauptamtlichen trugen nun die Hauptlast der Vorbereitungen. Die rund 300 Ehrenamtlichen hatten zwar Vorschlagsrecht, doch alle wichtigen Entscheidungen trafen die Bestellten. Natürlich in Absprache mit ihrem Brötchengeber, dessen selbstlose Funktionäre schwer an der Bürde der Verantwortung trugen. Schließlich lauerte der Klassenfeind überall, konnte sogar die besten Freunde infiltriert haben. Traue keinem unter dir. König Hartmut, langjähriger Kulturchef der FDJ, sah sich mehr als einmal gezwungen, Liedtexte umzuschreiben und Eröffnungsreden auf den neuesten Stand der Innen- und Außenpolitik zu bringen. Ein undankbarer, aber notwendiger Job. Deshalb kam es darauf an, schon in der Planung achtzugeben, daß die feindlich-negativen Kräfte keinen Ansatzpunkt fanden. Es ging schließlich auch hier um die alles entscheidende Frage »Wer wen?«. Das probateste Mittelchen war natürlich das Drehen am Geldhahn. Euren José könnt ihr vergessen, wenn nicht das und das passiert. Für die Teilnehmer aus der DDR kamen die auch in anderen Zusammenhängen erprobten Therapieformen in Frage, die von Liebesentzug bis zum Wedeln mit dem Strafgesetzbuch reichten. Da der Gegner — ein biologisches Wundertier — niemals schlief, wurden immer weniger dieser penetranten linken Barden geladen. Internationale Stars traten an ihre Stelle. Künder eines abstrakten Humanismus à la Paul Simon (doch derselbe blieb unerreichbar teuer). Mehr und mehr glich die Arbeit des Festivalbüros der einer Konzertagentur. Sie sollte das Unmögliche möglich machen, den unter chronischen Mangel an Veranstaltungen leidenden Jugendlichen eine solche Dröhnung verpassen, daß sie wieder ein Jahr davon zehren konnten. Für viele möglichst billig. Palast der Republik, Werner-Seelenbinder-Halle, Kongreßzentrum am Alex, Berliner Ensemble, Haus der jungen Talente: darunter lief kaum noch was.
Bei den weiterhin an Inhalten Interessierten stieß dieser Schwenk natürlich auf Kritik. Von Kommerzialisierung war da die Rede, vom Profilverlust. Aber was wollten sie eigentlich? Bekamen sie nicht ihre Teilnehmerausweise, ihre Lieblingsmusiker? Ergab sich für sie nicht die einzigartige Gelegenheit, der Tristesse ihres Alltags wenigstens für eine Woche zu entrinnen? Konnten sie nicht für sieben lange Tage und Nächte in der Gewißheit leben, die Welt beherbergen zu dürfen? Warum waren diese Landeskinder bloß so undankbar? Fühlten sie sich etwa als nützliche Idioten, bloß weil sie im Dienste der Sache standen? Oder waren sie etwa nur neidisch auf die, die alljährlich ihre Krallen hinhielten und abzockten? Hatte gar der Gegner sie geritten, die solcherart Aktiven als »Festivalmafia« zu diffamieren? Hatten sie denn vergessen, daß der oberste Grundsatz sozialistischer Politik »Freunde helfen Freunden« lautete? Oder waren sie einfach nur naive Träumer, Idealisten? Glaubten sie etwa immer noch an das Gute im Menschen, an den Sieg der Gerechtigkeit, an die Solidarität der Völker? Ja, wurden sie denn nie erwachsen? Scheinbar nicht.
Doch jetzt ist alles anders. Die Geschädigten von damals schlossen sich im »Förderverein für ein progressives Kulturfestival« zusammen. Ein frischer Name kündet vom Willen zum Neubeginn: »Zwischenweltfestival«. Es muß ohne die riesigen Zuschüsse vergangener Zeiten auskommen. Die auftretenden KünstlerInnen verzichten auf ihre Gage, übernachtet wird wieder in den Wohnungen der Vereinsmitglieder, nicht im Interhotel. Guter Wille und Improvisationstalent sind wichtigstes Grundkapital. Das Häuflein der betrogenen Aufrechten scheint entschlossen, ihre Idee zu rehabilitieren. Im Laufe des Experiments wird sich entscheiden, ob sie — befreit vom Ballast des Apparats — die Massen ergreifen kann. Uwe Baumgartner
Das Zwischenweltfestival läuft noch bis So. Veranstaltungstermine und -orte siehe Programmbeilage.
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