: „Die Russen sind gar keine Nation“
■ In dem Maße wie sich das totalitäre Massenbewußtsein zersetzt, tritt Ermüdung in der UdSSR ein/ Statt großrussischer Visionen bestehen Hoffnungen auf den populistischen Reformator/ Gespräch mit dem Moskauer Soziologen Lew Gudkow
taz: Wir haben vor einem Jahr in einem taz-Interview die Krise in der sowjetischen Gesellschaft erörtert. Wie würdest du in einigen Worten die heutige Situation charakterisieren?
Lew Gudkow: Mit einem Wort? Reaktion. Sie begann im September 1990, als das Programm der „500 Tage“ scheiterte und sich die Hoffnung auf schnelle Veränderung nicht erfüllte. Die Zensur begann, in den Massenmedien zu walten, es wurde über Staatsstreich gesprochen. Mit dem November wurde eine Reihe von Provokationen im Baltikum angezettelt und die offizielle Presse verbreitete forciert die Psychose, die Existenz der Russen im Baltikum sei bedroht. Das alles wurde sehr geschickt angestellt. Die Bilder von den Pogromen in Mittelasien wurden mit Bildern aus dem Baltikum zusammengeschnitten. Diese Montage hinterließ einen tiefen Eindruck. Gleichzeitig fanden in der Zentralregierung Umbesetzungen statt. Ein angespanntes Warten wurde durch die Ereignissen im Baltikum vom Januar hervorgerufen.
Hat sich mit dem Auftreten der Reaktion die Zusammensetzung der sozialen Kräfte verändert?
Nein. Eher ist sie im höchsten Grade entblößt. Der ideologische Schleier ist weg. Als die Armee und der Parteiapparat fühlten, daß sie zu verlieren drohten, das Vertrauen des Volkes verspielten, entsagten sie der sozialistischen und Perestroika-Rhetorik. Niemand spricht mehr über sozialistische Ideale. In Statements gewann die Pragmatik, die Macht zu retten, die Interessen des Apparates zu verteidigen sowie die nackte Taktik ohne jegliche Camouflage die Oberhand: „Unsere Macht und unser Eigentum werden wir so einfach nicht hergeben.“ Klar wurde eines: Der Parteiapparat ist nicht das wichtigste. Er ist nur die ausführende Struktur, hinter der eine wesentlich ernster zu nehmende Kraft steht — der militärisch-industrielle Komplex. Fast alle Mitglieder der letzten Regierung vertreten diesen Komplex, dessen Interessen mit jenen der gesamten Verwaltungsstruktur zusammenfallen. Die gesamte gegenwärtige Politik, Preissteigerung oder Blockierung reformistischer Programme, wird nur im Interesse dieses Komplexes geführt. In diesem Sinne konsolidierten sich im Verlaufe des letzten halben Jahres die konservativen Kräfte. Sie haben sich von ihrer Kopflosigkeit erholt und sind enorm aktiv geworden. Sie hörten auf, in der Taktik zu verlieren. Im Unterschied zu ihnen — die Demokraten, die sich als zu schwach, verwirrt und unfähig in der Praxis der Verwaltung erwiesen haben.
Ist die Unfähigkeit der Demokratenauf ihre konfrontative Einstellung zurückzuführen oder darauf, daß die alten Machthaber die Verwaltungsstrukturen blockieren?
Sowohl als auch. Es besteht ein direkter Widerstand ausgehend vom militärisch-industriellen Komplex und von den Verwaltungsstrukturen. Zum anderen haben die Demokraten keine praktische Erfahrung in Verwaltungsangelegenheiten. Aus der ständigen Konfrontation heraus kann sich keine praktische Arbeit entwickeln. Es findet ein Verfall der Verwaltungsstrukturen — und nicht nur auf höchster Ebene, sondern auch in den Kommunen — statt. Die Gesellschaft, von bürokratischen Strukturen durchdrungen, arbeitet nicht wirtschaftlich. Für einen Ausweg gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ein hartes Regime, also die Rückkehr zu bereits Dagewesenem oder aber eine Entstaatlichung. Die Zentralregierung kann sich darauf nicht einlassen, da sie ausschließlich die Interessen des militärisch-industriellen Komplexes wahrnimmt, der sich wiederum gegen eine solche Variante stemmt. Die Demokraten besitzen nicht die reale Macht. Der größte Teil ihrer Programme trägt deklarativen Charakter. Sie berücksichtigen nicht die Interessen des eigentlichen Verwaltungsapparates und die seiner einzelnen Glieder.
Warum sind die Demokraten nicht fähig, sich in ihrer Arbeit pragmatisch zu orientieren?
Der Charakter jener Interessen wird nicht verstanden, es gibt keine Erfahrung, wie man sich mit denen arrangiert oder zusammenarbeitet. Das einzige, wozu sich Demokraten als fähig erwiesen haben, sind politische Erklärungen und zur Konfrontation. Als positiv kann eingeschätzt werden, daß sich demokratische Werte in dieser oder jener Form im Massenbewußtsein festgesetzt haben, das sich immer mehr an Reformen orientiert und diese herbeisehnt.
Wie versteht das Massenbewußtsein die Reformen?
Mit Schwierigkeit ließe sich von ihm in irgend einer Weise Klarheit in dieser Frage erwarten, wie sollte es auch, wenn sich darüber nicht einmal die demokratische Elite im Klaren ist. Und dennoch: Übergang zur Marktwirtschaft, Entstaatlichung, Reorganisation der Union, Verwandlung der Union von einem Unterdrückungsstaat in eine Konförderation unabhängiger Republiken. Die Garantie der Pressefreiheit und der Bürgerrechte. Es wächst die Idee, daß die bürgerliche Welt mit dem Privateigentum, der Unantastbarkeit der Persönlichkeit sowie deren politischen und juristischen Absicherung einhergeht.
Welche Gefühle bewegten im letzten Jahr die Bevölkerung?
Die Zerstörung des totalitären Massenbewußtseins ging einher mit Ermüdung und Enttäuschung. An erste Stelle rückte das Problem der Lager und Krankenhäuser: Enttäuschung, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Aggressionen. Der psychologische Hintergrund ist kompliziert. Vor diesem Hintergrund ließe sich der verstärkte Wunsch nach Rückkehr zum Alten erwarten. Doch das passiert nicht. Es besteht das Bedürfnis nach Ordnung, jedoch nicht nach der stalinistischen, sondern nach populistischer und daß am Ende eine Führungsgestalt auftauchen würde, die fähig ist, den Widerstand des konservativen Apparates zu brechen, um die Situation wenigstens etwas zu verändern. Das Massenbewußtsein formiert sich aus zwei Bestandteilen: einerseits Hoffen auf Reformen, was mit Ermattung einhergeht, andererseits tritt immer mehr die innere konservative Struktur dieser Gesellschaft zu Tage: der Glaube an die Macht, nur der guten, wohlwollenden und die Passivität.
Das heißt, die Veränderungen sollten von irgendwoher, von außen eintreten, ohne Anteilnahme eines Individuums?
Wir haben in diesem Punkt die Frage gestellt: Hätten Sie die Politik der Perestroika 1985 unterstützt, wenn Sie gewußt hätten, wohin sie führen würde. Über 50 Prozent wußten darauf nicht zu antworten, über ein Viertel antwortete mit Nein, der geringste Teil mit ja. Der Zustand der psychologischen Ermüdung ist sehr charakteristisch. Es geschieht der nicht wieder rückgängig zu machende Zerfall des Überbaus im Massenbewußtseins — der ideologischen Grundlage der Machtstrukturen. Der Glaube daran, daß wir in der Lage sind, den Sozialismus aufzubauen, ist dahin, obwohl grundlegende Momente dieser Ideologie ungeachtet der beginnenden Kritik erhalten bleiben, zum Beispiel die Vorstellung von Lenin als Vater-Begründer, eine heilige Persönlichkeit.
Jede Gesellschaft, die radikale Veränderungen anstrebt, benötigt eine gewisse Identität. Was tritt anstelle des zerfallenden Großmachtbewußtseins in der Union, obwohl man von Union im Sinne des Wortes fast nicht mehr sprechen kann?
Es wird das Bewußtsein darüber entstehen, soweit nicht schon vorhanden, daß die gesamte sowjetische Historie eine Geschichte von Verbrechen und Armut ist, die Geschichte einer Gesellschaft, die zum Scheitern verurteilt ist. Ungeachtet dessen bezeichnet sich die große Mehrheit als Sowjetbürger. Das Imperium bleibt bestehen, wenn auch auf anderer Grundlage. In jeder Region laufen die Prozesse unterschiedlich ab. Die gesamte Peripherie befindet sich faktisch unter der Kontrolle des Parteiapparates. Anders kann das auch nicht sein. Man muß sich das Ausmaß der Unfreiheit in der Provinz vor Augen führen, wo der Mensch vollkommen von den örtlichen „Natschalnikis“ (Machthabern) abhängig ist. Ein Platz im Kindergarten, eine Wohnung, Lebensmittelkarten, Krankenhaus, Medizin — alle Seiten des Lebens befinden sich in direkter Abhängigkeit von der absoluten Loyalität zur Macht. Die Regionen lassen sich in drei Gruppen untergliedern: Vorreiter für den Totalitarismus ist Mittelasien, das ideologische Sanitätskordone errichtet, indem Sendungen des zentralen Radios und Mittel der Massenkommunikation unterbunden werden. In Mittelasien ist die Intelligenz der Träger des Nationalbewußtseins. Sie sitzt zwischen zwei Stühlen, der Macht und dem Fundamentalismus. Dort wird die Idee einer demokratischen nationalen Bewegung unterdrückt, findet die Konsolidierung des Parteiapparates und des religiösen Fundamentalismus statt.
Anhand der Debatten im Obersten Sowjet kann verfolgt werden, daß diese Kräfte am aktivsten von allen anderen für den Erhalt der Union streiten. Anders gelagert ist die Situation im Baltikum. Dort verläuft bereits eine noch nie dagewesene Grenze und die tatsächliche Abtrennung, deren Vollendung nur eine Frage der Zeit und der Technik darstellt. Moldawien und Georgien stellen die dritte Gruppe dar. Georgien reproduziert ein zentrales Imperium nach eigenen Maßstäben. Seine nationalistische Regierung gelangte dank der konservativen und antikommunitschen Reaktion der Bevölkerung auf den Zerfall des Imperiums an die Macht.
Wer trennt sich als erster ab?
Nach unseren Umfragen besteht im Massenbewußtsein die Vorstellung, daß sich zuerst das Baltikum, danach Georgien, nicht ausgeschlossen die Ukraine und nicht unmöglich Moldawien abtrennen werden. Die Bevölkerung hat sich damit abgefunden. Die Frage ist nur: Wie geht es weiter? Stark sind auch Tendenzen, die Sowjetunion mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu erhalten.
Was tritt anstelle des Großmachtbewußtseins der Russen?
Bei den Russen wird sich keine vereinheitlichte semantische politische oder ideologische Struktur formieren. Der Isolationsprozeß schreitet voran: Es bringt nichts, sich einzumischen, als Stütze des Imperiums zu fungieren ist nicht nötig, Rußland sollte sich mit seinen eigenen Problemen beschäftigen. An die Stelle des Großmachtbewußtseins wird nichts treten, sein Zerfall muß nicht unbedingt vom Entstehen einer neuen, zementierenden Ideologie begleitet sein. Die Demokraten entwickeln nicht die Idee der nationalen Einheit. Eine nationale Ideologie entsteht nicht. Die Russen sind überhaupt keine Nation.
Ist das nicht gefährlich? Ist das nicht ein negatives, destruktives Element, daß die Mobilisierung des Volkes in einer Krisensituation verhindert?
150 Millionen — das ist ein zu gigantisches Gebilde, um es mit einer nationalen Idee zu vereinen. Es findet die Zerstörung der symbolischen Strukturen statt, nicht etwa die Bildung von neuen. Dem Massenbewußtsein ist die mechanische Solidarität verlustig gegangen, immer tiefer wird es von inneren, familiären Problemen der alltäglichen Existenz durchdrungen. Zum Korrelat für das Fehlen der positiven Identifikation wird die personengebundene Autorität. Das Charisma eines populistischen Führers bildet sich heraus, wenn die symbolischen Bestandteile der Kultur schwach sind, die Ideologie zerfällt und das einzige die Massen verbindende Element die personengebundene Autorität ist. Die Popularität Jelzins ist mit eben diesem Phänomen zu erklären. Auf ihn projezieren sich Erwartungen und Hoffnungen, die mächtiger sind, als er sie zu tragen im Stande wäre. Obwohl, Jelzin agiert klüger, taktischer, als daß man es von ihm hätte erwarten können. Aber zu realen Schritten ist er nicht in der Lage. Seine Erklärung mit der Aufforderung an Gorbatschow, zurückzutreten, war unbedingt notwendig, um sich offen vom Zentrum abzugrenzen.
Welchen Stellenwert nimmt Gorbatschow im Massenbewußtsein ein?
Entsprechend unseren letzten Umfragen wird er als schwach, unentschlossen, heuchlerisch, wendig, gleichgültig den Bedürfnissen des Volkes eingestellt, als politischer Intrigant charakterisiert. Das frühere Götzenbild, die Liebe aufgebraucht, wird vom Sockel gestoßen. In Wahrheit hat er sich mit den Rechten konsolidiert. Er spielt eine rein konservative Rolle, vertritt die Interessen des militärisch-industriellen Komplexes. Deshalb zwingt ihn die Empfindung, das Vertrauen verloren zu haben, immer mehr dazu, formale symbolische Macht anzuhäufen. Dabei wirkt er beinahe lächerlich, die Macht ging auf jene Kräfte über, die hinter ihm stehen. In Gorbatschows Mannschaft sind entweder unbekannte oder unpopuläre Leute versammelt, die keinerlei Ideen noch Programme haben. Im Unterschied zu Jelzin, der eine starke Crew um sich versammelt hat, die Energie, Ideen und Verständnis der Situation aufbringet. Gorbatschow hat aufgehört, die Lage zu begreifen. Früher unternahm er jeden seiner Schritte im Einklang mit der Absicht, sich vom Vergangenen loszusagen, heute wendet sich jeder seiner Auftritte gegen ihn.
Was würde im Falle seines Rücktritts geschehen?
Die Konfrontation würde stärker werden. Es gibt zwei Varianten, Jelzin loszuwerden — ihn physisch zu beseitigen oder ihm die Macht abtreten. Träfe das letztere zu, würde er sich in einer ebenso hilflosen Situation befinden, in der Gorbatschow steckt. Also eine Pattsituation, für deren Lösung Zeit erforderlich ist.
Was kann geschehen?
Eine gewisse kritische Masse an Ideen und Erfahrung muß sich erst ansammeln. Die intellektuellen, politischen und sozialen Prozesse vollziehen sich momentan in relativ raschem Tempo. Die Mannschaft um Jelzin lernt schnell.
Warum wird nicht die liberale Presse verboten?
Solche Versuche hat es gegeben, doch sie stießen auf ernsten Widerstand. Nichtsdestotrotz wird die Presse unterdrückt. Insbesondere, was die populärsten Druckerzeugnisse anbelangt. Zum einen ist schon bekannt, welche Zeitungen zuerst eingestellt werden: 'Moskowskie Nowosti‘, 'Komsomolskaja Prawda‘, 'Argumenty i fakty‘, 'Nesawisimaja Gaseta‘, 'Kommersant‘. Doch nicht für sehr lange Zeit, weil zum zweiten damit nicht das gewünschte Resultat erzielt wird, die Informationen ohnehin über andere Kanäle — auflagenschwächere und lokale Zeitungen — verbreitet werden. Wenn man in der Lage wäre, dann hätte man bereits schon alles verboten. Doch das würde allenfalls den Prozeß verlangsamen.
Alles spricht von einem baldigen Bürgerkrieg.
Der bereits tobt. In Georgien, in Aserbaidschan. Regionale Herde gibt es über zehn. Aber ein Bürgerkrieg im klassischen Verständnis wird nicht ausbrechen, dafür kleine, lokale Konflikte um die örtliche Macht.
Wie wurde die Vereinigung Deutschlands aufgenommen?
Sehr positiv. Das Feindbild ist verschwunden, was ein Indiz für reale Veränderungen ist. Im großen und ganzen überwiegt die Verwunderung über das, was geschehen ist. Was in Osteuropa ablief, weckte eine Menge an Erwartungen, das es hier ebenso werden würde. Die Panzer haben diese Illusionen plattgemacht. Die Januarereignisse im Baltikum haben bewiesen: Einfach wird nichts sein, es steht ein schmerzhafter und schwerer Weg bevor.
Interview: Sonja Margolina
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen