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Fleisch für die Pressefreiheit

Estlands Presse: Wegen Papiermangels werden Chefredakteure zu Tauschhändlern  ■ Aus Tallinn Reinhard Wolff

„Rubel? Vergiß es!“ Ja, es gibt auch einen offiziellen, staatlich festgesetzten Preis für Zeitungspapier: „1.200 Rubel die Tonne.“ Aber, so Margus Mets, 29jähriger Chefredakteur von 'Päevaleht‘ ('Tagblatt‘), „der eigentliche Preis, der auf dem freien Markt verlangt wird, liegt zwischen 5.000 und 8.000 Rubel die Tonne. Und das können wir uns eigentlich gar nicht leisten.“ Doch seit neuestem ist es mit Rubel gar nicht mehr getan: „Die großen Papierfabriken oben in Karelien, die uns beliefern, wollen Naturalien: Fleisch, Schokolade, Konserven oder ein paar Eisenbahnwaggons voll Ziegelsteine.“

Die Zeitungen in Estland sind dünn geworden. Auch 'Päevaleht‘. Eine davon zu erwischen, ist fast hoffnungslos. Sobald die Zeitungen an die Kioske ausgeliefert werden, bilden sich lange Schlangen, und in Nullkommanichts sind sie ausverkauft. 'Päevaleht‘ könnte über 100.000 verkaufen, kann aber gerade noch 75.000 drucken. Und genauso geht es allen anderen Zeitungen auch. Die EstInnen scheinen ein zeitungswütiges Volk zu sein: Fast eine Million Tageszeitungen wurden Anfang des Jahres jeden Tag gedruckt und restlos verkauft — bei einer Einwohnerzahl von gerade 1,5 Millionen.

'Päevaleht‘ hieß früher 'Noorte Hääl‘ ('Stimme der Jugend‘) und war das treue Sprachrohr des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol. Wie die anderen Zeitungen in der estnischen Hauptstadt Tallinn war sie für drei Kopeken zu haben. Zehn Kopeken kostet sie jetzt, doch eigentlich müßte sie das Drei- bis Vierfache kosten, um in den Zeiten der Marktwirtschaft überleben zu können. Es gibt zu viele Zeitungen, denen vor allem eines fehlt: Anzeigen. Über den Preis ist das nur bedingt auszugleichen. Mart Kadastik, Chefredakteur der in Tartu erscheinenden 'Postimees‘ ('Briefträger‘): „Unseren Abonnementpreis haben wir gerade auf 29 Rubel erhöht, pro Jahr. Doch eigentlich müßten wir 60 nehmen. Aber das machen die Leser nicht mit.“

Der Chefredakteur von 'Postimees‘, die eine oppositionelle Linie zur Regierung Savisaar verfolgt und trotz eines 50 Prozent höheren Preises als die Konkurrenz 120.000 Exemplare täglich absetzt, kommt auch als erstes auf die Papierknappheit zu sprechen: „Über 150.000 könnten wir täglich verkaufen, aber wir bekommen nicht genug Papier. Eine Tonne Fleisch für drei Tonnen Zeitungspapier ist der aktuelle Kurs — vielleicht sollten wir uns einer Viehzucht angliedern.“

Doch Mart Kadastik fühlt seine Zeitung noch zusätzlich benachteiligt: „Wir bekommen gerade die Hälfte dessen, was wir brauchen. Uns droht der Hahn weiter zugedreht zu werden, sollten wir zu aufmüpfig werden.“ Früher wurden alle Zeitungen und Zeitschriften in Estland von der KP über zwei parteieigene Verlage gesteuert. Alle zwei Wochen gab es Sitzungen, zu denen alle Chefredakteure beim Propagandachef der Partei anzutanzen hatten. Dort gab es Kritik für mangelnde Linientreue, die Parolen für die nächsten Wochen wurden ausgegeben. Vorabdrucke jeder Zeitungsseite mußten erst das Zensurbüro passieren, bevor die Pressen anlaufen konnten. Jetzt sind alle Zeitungen frei, die Zensur ist weg — aber nur im Prinzip.

Die Namen vieler Zeitungen haben sich geändert, aber nicht die Eigentümer: die beiden gleichen Verlage. Diese bestimmen auch die Verteilung des knappen Zeitungspapiers. Die meisten Chefredakteure werden von der Regierung eingesetzt, wenn es nicht gleich die alten geblieben sind. Den Zeitungen sieht man das an. 'Rahva Hääl‘ ('Volksstimme‘), Sprachrohr der Regierung, druckt kreuzbrav jede Rede von Präsident Ruutel und Premierminister Savisaar ab — so wie das eben schon immer war. Kritische Berichterstattung muß man mit der Lupe suchen. Ein Wunder ist das natürlich nicht: Eine ganze Generation von JournalistInnen hat ihre Ausbildung und Berufspraxis unter der Zeit strenger Selbstzensur absolviert. Es werde noch Jahre dauern, so die Zeitrechnung des estnischen Journalistenverbandes „Ajakirjanike Liit“, bis man sich mit westlicher Presse messen könne. Eine neue Generation JournalistInnen erhält gerade an der Universität von Tartu eine fünfjährige Ausbildung.

Ausnahmen im allzu einheitlichen Blätterwald aber gibt es schon. So das Nachrichtenmagazin 'Eesti Ekspress‘, das einmal pro Woche in einer Auflage von 60.000 Exemplaren erscheint und den stolzen Preis von 1,30 Rubel kostet. Oder eben auch 'Postimees‘. Mit dem Ziel, unabhängig von einem gängelnden Verlag zu werden, haben sich die Angestellten eine eigene Offsetdruckpresse angeschafft und eine neue moderne Setzerei mit Bildschirmgeräten. Die Anteile einer zukünftigen Aktiengesellschaft sollen weitmöglichst im Besitz der Angestellten bleiben: möglicherweise also bald die erste estnische Tageszeitung, die ganz ihren MacherInnen selbst gehören wird.

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