: Wohin fährt die Friedensfahrt?
Größtes Amateurrennen oder Kaderschmiede des Profisports? Sozialistisches Sportkollektiv oder kapitalistischer Individualist? — Die „Radfernfahrt für den Frieden“ sucht nach den Antworten ■ Aus Polanica Hagen Boßdorf
„Die Universität des Amateur-Radsports“ nannte der spanische Präsident des Weltverbandes der Amateur-Radler, Luiz Puig, die Friedensfahrt. Nach dem Wechsel der prominentesten Amateure ins Profilager, nach der Reduzierung des „Course de la Paix“ zu einer Zwei- Länder-Fahrt, nach den Diskussionen um deren Zukunft muß man sich ernsthaft fragen, was man an dieser Universität noch studieren kann?
„Es bleibt eines der interessantesten Etappenrennen der Welt“, meint Bundestrainer Wolfram Lindner, der Konstrukteur der radfahrenden Übermacht DDR in den 80er Jahren, der 1991 seine 21. Friedensfahrt erlebt. „Ich betrachte den Weggang der Profis ohne Wehmut“, ist Lindner sogar stolz auf die ersten Berufserfolge seiner ehemaligen Musterschüler Ampler, Ludwig, Raab und Co. „Wir waren doch alle auch verwöhnt von ihnen. Sechs oder sieben Etappensiege pro Fahrt sind eben nicht mehr drin.“
In diesem Jahr erfuhren die vereinten deutschen Radamateure noch keinen Tageserfolg. Nur Frank Augustin (Frankfurt/Oder) gewann den Prolog und schlüpfte für zwei Tage ins gelbe Trikot. Aber kaum waren die ersten Berge der tschechisch-polnischen Sudeten in Sicht, hatte er es schon wieder verloren. „Ich muß mich durch die Berge quälen und im Zeitfahren bin ich auch nicht so gut“, schätzt sich der spurtstarke Augustin ein, der nach den Olympischen Spielen 1992 ebenfalls Profi werden will.
Während Erfolgstrainer Lindner früher die besten „Renner“ seines Landes kontinuierlich und konzeptionell trainieren konnte, begleitet er heute nur noch junge Talente auf dem ersten Abschnitt ihrer Sportlerlaufbahn bis zum Wechsel ins Berufsfahrerlager. „Ich kann mich damit abfinden, sonst hätte ich auch Angebote verschiedener Profiställe annehmen können.“ Daß die sportliche Qualität vergangener Jahre dabei verloren geht, will Wolfram Lindner noch nicht wahrhaben. „Vor der Friedensfahrt fielen uns wichtige Rundfahrten in Italien, Spanien und Kuba aus. Da fehlen viele Kilometer in den Beinen der Fahrer.“
Diese Kilometer können auch durch die Umstellung im Trainingsalltag der ostdeutschen Straßenfahrer verloren gegangen sein. Bert Dietz (früher DHfK Leipzig) und Gerd Audehm (SC Cottbus) fahren heute für die RSG Nürnberg. „Wir trainieren alleine, ohne Anleitung“, erklärt Friedensfahrt-Neuling Audehm, „nur unser ehemaliger Cottbuser Trainer gibt uns aus der Ferne methodische Hinweise.“ Der Bergspezialist ist deshalb froh über jede Rundfahrt, die ihm Kraft in die Muskeln pulvert.
Beim 22 Kilometer langen Bergzeitfahren in Polanica Sdroj strampelte sich Gerd Audehm auf den sechsten Platz. Ständig ging es steil bergauf, nur durch eine drei Kilometer lange, halsbrecherische Abfahrt unterbrochen. „Ich bin nicht zufrieden, wir wollten weiter nach vorn“, beobachtet der 23jährige neidisch den Rummel um den polnischen Zeitfahrsieger Dariusz Baranowski. „Aber bis Warschau wollen wir wenigstens noch einen unter die ersten drei bringen“, macht er sich Mut.
Die polnischen „Ritter der Landstraße“ belohnen indes fleißig die Tausenden von Fans, die wie in besten Friedensfahrt-Zeiten an die Strecke pilgern. Der erst 18jährige Jacek Mickiewicz verteidigte mit zwei dritten Plätzen sein gelbes Trikot gegen Wassili Dawidenko, einen Russen aus Tbilissi. „Das Feld ist fast gleichstark, da kann keiner nach vorne losfahren“, weiß auch Trainerfuchs Wolfram Lindner um die Bedeutung jeder kleinen Zeitgutschrift bei Prämienspurts und fordert von seinen Burschen „die Attacke“.
Während sie dann am Tage um die Führung im Klassement streiten, diskutieren die deutschen Fahrer abends über ihre Fahrweise. „Wir fahren nicht mannschaftlich geschlossen“, rätselt Kapitän Bert Dietz, „die Fahrer aus dem Westen fahren zu eigensinnig, wir stimmen uns untereinander kaum ab.“ Gerd Audehm ergänzt: „Die hängen sich nur hinten ran und gucken was passiert, während wir vorne rackern.“ Deshalb gab es nach den ersten Etappen geharnischte Aussprachen im Team. Der Pfälzer Patrick Moster hofft nun: „Es gab da Probleme, aber es läuft bald besser.“
Der Erfolg kam schneller als erwartet. Auf der Bergetappe „Rund um Polanica“ gewann Audehm die schwierigste Bergwertung, Dietz wurde Tageszweiter. Die Rennfahrer aus Ost und West strampeln nun mit der Kraft des Kollektivs zu neuen individuellen Erfolgen.
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