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Ohne Punkt und Komma

„Radix“ — eine französisch-russische Koproduktion. Westeuropäische Erstaufführung beim Festival „Perspectives“ in Saarbrücken  ■ Von Kai Voigtländer

Radix — das Theater der Bilder im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit: Von rechts nach links gleitet ein Damenhandtäschchen im Riesenformat über die Bühne, durchsichtig und von innen erleuchtet, mit damenhaften Accessoires im damenüblichen Durcheinander, und mittendrin im Damentäschchen sitzt ein Herr, der wispert und flüstert, zirpt und zwitschert leise Laute in unverständlicher Kunstsprache, Adam in Evas Reich, zärtlich und werbend. Schnitt.

Langsam rollt ein Mädchen herein auf einem Wagen, eingespannt in ein Holzgestänge, Tänzerinnenkostüm, ganz in weiß, hell ausgeleuchtet, ihr Kopf steckt in einem kleinen Rechteck, ohne Bewegung steht sie da und singt, auf der Leinwand im Hintergrund eine Landschaft aus wogendem Korn, fast monochrom und doch in fein abgestuften Grünschattierungen, die Kamera steht lange und ruhig auf diesem Bild. Schnitt.

Die Leinwand zeigt tote Köpfe, Reihen von Leichen, verbrannte Gesichter in Großaufnahme, die Tänzerin rollt zurück im gleichen Tempo, das Mädchen schreit und stöhnt, ohne auf die Bilder zu sehen, von hinten nähern sich dunkle Gestalten mit gleißenden Handlampen, ihre Strahlen tasten sich durch die riesige Halle, blenden, fangen Gesichter aus dem Publikum ein. Schnitt.

Wieder das Kornfeld, der Wagen rollt in Gegenrichtung, die Handlampen verlöschen, die Gestalten ziehen sich zurück in das Dunkel, aus dem sie gekommen sind, das Mädchen singt. Schnitt. Leichen, die Tänzerin heult und würgt. Schnitt. Handlampen suchen Gesichter. Schnitt. Schnitt. Schnitt. Bizarre Bilder ohne Punkt und Komma.

Radix besteht aus Endlosschleifen. Man gerät in ein Bild, dreht sich mit in der Mechanik der immergleichen Bewegungen, wird immer wieder ausgespuckt, in den nächsten Maschinenraum, während die anderen Bilder simultan weiterlaufen. Irgendwo hinter der Bühne oder auch nur vor dem inneren Auge, auf den Projektionsflächen des Gehirns. Ein visueller Orgasmus, der fast zweieinhalb Stunden lang pausenlos Bilder auswirft, Tableau an Tableau reiht, in ständigen, oft atemlosen Überkreuzmontagen aus hyperästhetisch kühlen Kunstwelten und ekelerregend realistischen Schlachthofszenen.

Radix ist ein Marathon — in jeder Hinsicht. Vorne rechts auf der riesigen Bühne läuft ein Sportler auf einem Laufband gegen dessen Fahrtrichtung. Zweieinhalb Stunden lang, ohne Pause. Sein Laufschritt, über ein Mikrophon verstärkt, bildet das rhythmische Rückgrat der Aufführung. Hinter ihm läuft während seines ganzen Laufs eine langsame, wie von Amateuren gedrehte Kamerafahrt durch die Straßen von Leningrad. Zweieinhalb Filmstunden ohne Schwenk oder Perspektivenwechsel. Straßen, Plätze, das Winterpalais, eine Nevabrücke, Paläste, Trümmerfelder, Kooperativen-Läden, Kanäle, Passanten, Busse, Baustellen, Vorstädte. Das monotonste Roadmovie der Filmgeschichte, kein einziger Schnitt ist zu erkennen, Filmzeit gleich Echtzeit: das Kontinuum eines langsam fließenden Bilderstroms.

Gleichmäßig zieht das Panorama Leningrads am Marathon-Mann vorbei, und jeder Zuschauer setzt die Bilder durch Tempo und Rhythmus seiner Blicke zum eigenen Film zusammen — wobei sich oft eigenwillige Parallelmontagen ergeben. Ganz am Anfang etwa, als der Leningrad-Film am Winterpalais vorbeiführt, marschieren auf der Hauptbühne — hinter einem hüfthoch hängenden Vorhang — 16 Beine in blauen und weißen Hosen zu einem Admirals- und Matrosenballett auf. Nichts als die Farbe der Hosen und der Marschrhythmus der Schritte — und daraus wird der Sturm auf das Winterpalais, und der Kronstädter Matrosenaufstand wird niedergeschlagen.

Radix — das ist die Montage als Prinzip aller theatralischen Dinge: Revue und Rockkonzert, Performance und Figurentheater, Filmprojektion und Sportveranstaltung bilden ein Simultanereignis. Radix montiert kühl kalkulierten französischen Ästhetizismus mit slawischer Schwermut und Erdwärme. Radix ist die endgültige Theatermaschine: mal schnurrende Zahnradbahn, mal zusammenhangloses Geknäuel von Stangen und Rädern, mal vorbeirasender Güterzug. Alle Einzelteile heben sich ständig wieder auf, brechen und kommentieren und zitieren sich gegenseitig, haben nichts miteinander zu tun und greifen funktionierend ineinander. Entstanden ist dieses Spektakel aus einer Kooperation der französischen Theatergruppe „La Fabriks“ und dem „Théatre Intérieur d'Etat“, einer dissidentisch gesonnenen freien Gruppe aus Leningrad. Das Konzept stammt aus Frankreich, aber realisiert wurde die Produktion in der Sowjetunion — übrigens das erste Beispiel einer französisch-russischen Koproduktion seit 1914. Der 30jährige Regisseur Jean-Michel Bruyère hat den russischen Konstruktivismus der zwanziger Jahre adaptiert, speziell die Experimente und Theorien der Leningrader Gruppe Feks (was etwa „Fabrik des exzentrischen Schauspielers“ heißen soll).

In Radix konfrontieren Bruyère und seine etwa zwanzig französisch- russischen Akteure den Konstruktivismus, in besseren Zeiten die ästhetische Avantgarde der Sowjetmacht, mit einem filmischen Schnittmuster des Alltags in der heutigen Sowjetunion. Und sie spielen den Eisensteinschen Schwarz-Weiß-Montagen aus der schmutzigen Arbeitswelt virtuos die Versatzstücke der bunten Waren- und Werbewelt zu, die uns rund um den Globus zur heiligen Konsumtion ruft — ohne Ansehen von Reichtum und Gesinnung. Aus einer orangefarbenen Plastikmülltonne zieht ein etwas schmieriger Sänger/Conferencier nacheinander ein Bügeleisen, einen Dampfkochtopf und andere nagelneue Konsumgüter heraus und präsentiert diese Banalitäten wie ein Kunstauktionator. Wie mag das im Sportpalast von Leningrad auf die Zuschauer gewirkt haben, als Radix dort vor einigen Wochen zum ersten Mal gezeigt wurde? Und wo ein funktionierendes Bügeleisen vermutlich so selten ist wie die blaue Mauritius?

Solche Brisanz entfaltet sich natürlich am ehesten dort, wo der Mangel regiert. Bei der westeuropäischen Erstaufführung in Saarbrücken, wo Radix dem ansonsten müden Festival des jungen französischen Theaters den Glanz des Exotischen verlieh, schienen viele Bilder an der Gleichgültigkeit des Publikums abzuprallen [das „innere Auge“, die „Projektionsflächen des Gehirns“ des Betrachters in die Arbeit miteinbezogen habend, wird man wohl auch seine Gleichgültigkeit akzeptieren müssen, d.S.].

Von Saarbrücken aus macht sich die Konstruktivisten-Revue nun auf den Weg in den Festivalsommer, nach Paris, Hamburg, Berlin, Barcelona. Das sind die richtigen Orte für Radix: Die künstliche Revue-Welt, mit ihrer heroisierten Arbeit, ihrer ästhetisierten Geschwindigkeit, ihrem ironisierten Konsum, trifft auf ihr metropolitanes Vor- und Spiegelbild. Auf den Aufprall darf man gespannt sein.

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