Ein Ex-Revoluzzer bringt Italiens Justiz auf Trab

Der Revisionsprozeß gegen die Chefs der linksradikalen „Lotta continua“ droht zur Farce zu werden/ Der renommierte Publizist Adriano Sofri, in erster Instanz zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt, nimmt nicht teil — und verursacht den Juristen schweres Magendrücken  ■ Aus Rom Werner Raith

Italiens Advokaten ganz in ihrem Element: Ein derart kniffliges Problem hatten sie schon lange nicht zu lösen. Es geht um den — in Juristenköpfen offenbar nicht vorgesehenen — Fall, daß ein Angeklagter sich nicht schuldig bekennt und trotz hoher Strafe einfach darauf verzichtet, Rechtsmittel einzulegen. Und das droht nun das italienische Justizsystem offenbar in die Nähe des Kollapses zu bringen.

Der Fall steht seit gut eineinhalb Jahren in den Schlagzeilen, und er hätte eigentlich ein Stück Aufarbeitung der jüngeren, teilweise recht blutigen Geschichte Italiens sein können: Vor Gericht stand der angesehene Publizist Adriano Sofri, 40, zusammen mit zwei Ex-Genossen aus der in den frühen 70er Jahren größten linksradikalen Studenten- und Arbeiterorganisation, der „Lotta continua“. Die drei wurden beschuldigt, 1972 die Ermordung des Kriminalkommissars Calabresi geplant, beziehungsweise ausgeführt zu haben. Dieser war von der außerparlamentarischen Linken für den angeblichen Freitod eines Anarchisten verantwortlich gemacht worden, der zu Unrecht wegen des Sprengstoffanschlags auf die Landwirtschaftsbank in Mailand 1969 — 16 Tote — verdächtigt worden war und beim Verhör durch Calabresi aus dem Fenster des vierten Stockwerks stürzte.

Das Verfahren gegen Sofri, Pietrostefani und Bompressi kam sechzehn Jahre nach der Ermordung Calabresis in Gang, nachdem ein vierter Mitkämpfer von damals, Leonardo Marino, von plötzlicher Reue ergriffen, sich selbst und seine Ex-Freunde beschuldigt hatte: Adriano Sofri und Giorgio Pietrostefani sollen den Auftrag erteilt, Ovidio Bompressi die Tat zusammen mit Marino ausgeführt haben.

Gegen die Festnahme und die nachfolgende Anklage erhob sich freilich sofort ein Sturm der Entrüstung; reihenweise zeigten sich ehemalige Mitglieder von „Lotta continua“, teilweise heute in Amt und Würden, selbst an: „Wenn Sofri hier als Auftraggeber präsentiert wird“, so der auf einer gemeinsamen grün- sozialistischen Liste gewählte Senator Marco Boato, „dann allenfalls, weil wir nach der Tat kein sonderliches Mitleid mit dem Polizisten gezeigt haben, und in diesem Sinne sind dann allesamt Auftraggeber.“ Die gut vierzig Selbstanzeigen wurden freilich nicht weiterverfolgt, doch Adriano Sofri, Giorgio Pietrostefani (beide als Auftraggeber) und Ovide Bompressi (als „materieller“ Täter) sowie der „Kronzeuge“ Leonardo Marino kamen auf die Anklagebank. Die ersten drei wurden zu je 22 Jahren Gefängnis verurteilt, der „geständige“ Marino erhielt einen Rabatt für die Aussage und kam mit elf Jahren davon. Das Verfahren in erster Instanz war abgeschlossen.

Während sich Pietrostefani und Bompressi vor allem um einen Nachweis ihrer Unschuld bemühten, suchte Sofri den Prozeß zu einer öffentlichen Bearbeitung jener turbulenten und manchmal sehr blutigen Jahre zu machen. Es gelang ihm nur teilweise — auch weil die Öffentlichkeit, einige wenige Zeitungen wie 'il manifesto‘ und 'L'Unità‘ ausgenommen, wenig Interesse an einer politischen Gestaltung des Prozesses zeigten und so Sofris teilweise sehr differenzierten Einschätzungen der damaligen politischen Situation wie des eigenen Verhaltens nicht folgten.

Immerhin waren sich auch die unpolitischen Beobachter einig darin, daß es außer den — überwiegend widersprüchlichen — Anschuldigungen Marinos keinerlei handfeste Indizien gab. Darüber hinaus geriet der „Kronzeuge“ auch deshalb in Mißkredit, weil er sich, kurz bevor ihn erste Gewissensbisse plagten, wegen akuten Geldmangels an seine Ex-Genossen gewandt und von denen keine Hilfe erhalten hatte, jedoch kurz nach Beginn seiner Aussagen offenbar aus seinem Finanztief herausgekommen war.

Auch die Urteilsbegründung der ersten Instanz überzeugte nicht gerade durch Wasserdichte: Hinsichtlich des Wie und Wann des Mord- „Auftrags“ stuften die Richter ohne weitere Begründung die völlig isolierte Version Marinos als „glaubhaft“ ein, während sie gegenteilige Aussagen von mehr als zwei Dutzend Zeugen als „völlig unglaubwürdig“ wegschoben. Bisweilen wurde der Prozeß fast zur Farce: So erinnerte sich Marino, den Mordauftrag von Sofri und Co. unmittelbar nach einer „Lotta continua“-Demo in Pisa erhalten zu haben — was alle übrigen Zeugen schon deshalb für unwahrscheinlich hielten, weil es nach ihrer Erinnerung damals in Strömen zu regnen begonnen hatte und Sofri und die anderen sich in einen Saal gerettet hatten, in dem ein gutbesuchte Versammlung der KPI stattfand: Wo sollten die „Lotta continua“-Führer dort, inmitten ihrer geschworenen Feinde, einen Mordplan ausgeheckt und detailliert erörtert haben? Das Gericht wischte den Einwand einfach damit weg, daß es für den fraglichen Tag, den 13. Mai 1972, gutes Wetter verordnete und alle anderen Erinnerungen zu „reinen Schutzbehauptungen von Freunden Sofris“ erklärte. Die einfache Möglichkeit, beim Wetteramt nachzufragen, kam ihm gar nicht in den Sinn.

Heute beginnt nun der Prozeß in zweiter Instanz — doch Berufung haben nur Pietrostefani und Bompressi eingelegt, Sofri hingegen nicht. Was tun mit dem Dickschädel, der inzwischen auch noch seinen Verteidiger entlassen hat? Das Problem ist kompliziert: An sich ist das Urteil gegen ihn damit rechtskräftig. Doch sollte sich nun in der Berufung herausstellen, daß Marino gelogen hat und es zum Freispruch der anderen kommt, was dann? Das Gericht hat angeordnet, daß mit dem Verfahren auch jenes gegen Sofri neu eröffnet wird — was es jedoch nach der italienischen Strafprozeßordnung nur könnte, wenn es von vornherein Zweifel an der Richtigkeit des Prozesses erster Instanz hegt. Das aber könnte eine Ablehnung wegen Befangenheit durch den Staatsanwalt provozieren. Um diesem Verdacht zu entgehen, haben zwei Mitglieder des Gerichts öffentlich Solidarität mit den Kollegen erster Instanz bekundet — und sich darauf prompt umgekehrt einen Befangenheitsantrag der Angeklagten zugezogen. Der wurde kurz vor Prozeßbeginn vom Obersten Gerichtshof abgelehnt, so daß das Verfahren heute wie geplant beginnen kann.