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Eine grausame Idee

Jacques Rivettes Vierstundenfilm „La belle noiseuse“ wurde auf den Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt: Ein Meisterwerk  ■ Von Thierry Chervel

Marianne (Emmanuelle Béart) hat überraschend spitze Brüste. Ihr Becken ist ausladend. Ihre Beine sind im Verhältnis zum Oberkörper vielleicht ein bißchen kurz. Ihr Blick ist abweisend. Sie hat noch nie posiert, und sie hat nur widerstrebend eingewilligt. Frenhofer (Michel Piccoli) hatte zuerst Mariannes Freund Nicolas (David Bursztein) gefragt, ob er einverstanden sei, daß sie ihm Modell sitzt: als wäre sie ein Handelsobjekt zwischen ihnen beiden. Nicolas ist ebenfalls Maler und ein großer Bewunderer Frenhofers. Er sagt zu. Aber daß Marianne dann tatsächlich posiert, macht ihm große Angst. Frenhofer will ein „absolutes Meisterwerk“ schaffen: „La belle noiseuse“. Eine alte Idee von ihm. Die Studien zu diesem Gemälde hat er vor zehn Jahren abgebrochen. Damals hatte seine Frau Liz (Jane Birkin) für ihn posiert. Seitdem hat er nicht mehr gemalt und zehrt auf seinem wunderschönen, uralten Anwesen in Frankreichs Süden von seinem Ruhm. Sein Atelier ist unaufgeräumt. Er trinkt.

Die Feder kratzt über das rauhe Papier des Skizzenbuchs. Es ist eines dieser Geräusche, die einem — wie das Kreischen von Kreide auf Tafeln — idiosynkratische Schauer über den Rücken jagen. Auch Frenhofer ist distanziert, betont geschäftsmäßig bei der Arbeit. Er ist sachlich, sie die Sache. Die Situation ist alles andere als erotisch. Das ist vielleicht gerade das Unheimliche. „Seltsame Dinge geschehen hier“, sagt Marianne gleich zu Anfang des Films. Zwar ist das Licht im Atelier, das von schräg oben auf sie fällt — das schönste Licht in diesem Festival — weich, sanft, modellierend, keineswegs schattenlos und entblößend wie in der Pornographie und medizinischen Fotografien. Aber diese anziehende Körperlichkeit des Filmlichts findet weder in den Beziehungen zwischen Marianne und Frenhofer noch in seinen Skizzen eine Entsprechung. Dort ist ihr Körper Kontur, die schroff nach außen und innen abgegrenzt ist. Das bleibt auch so, als Frenhofer zu größeren Formaten übergeht und zuerst mit Kohle auf Papier, dann mit Pinsel auf Leinwand arbeitet. Kohle und Pinsel machen etwas weichere Geräusche, wären auch zu differenzierteren Schattierungen fähig als die Feder, aber die Konturen bleiben hart. Dichte gewinnt nur der Raum, als wäre der Körper die Leere — eine Aussparung im allein greifbaren Raum, der ihn umgibt. Aber es läßt sich nicht viel über die Bilder sagen, es sind Skizzen.

Mariannes Nacktheit ist längst kein Problem mehr. Das heißt allerdings nicht, daß sich die Beziehungen entspannen, sondern nur, daß die Nacktheit eben nie das eigentliche Problem war. Frenhofer faßt Marianne inzwischen auch an: wie eine Gliederpuppe, die er in immer kompliziertere, extremere, unbequemere Stellungen biegt. Marianne protestiert und verlangt, daß sie sich ab jetzt ihre eigenen Posen suchen kann. Sie erzählt von sich. Sie streiten und betrinken sich und lachen. Frenhofer will aufgeben. Dann hat er eine grausame Idee. Er holt ein altes, unfertiges Gemälde hervor, den am weitesten gediehenen Entwurf zur „Noiseuse“ aus der Zeit, als Liz noch sein Modell war, eine Skizze, die Liz sehr liebt, und übermalt es mit Marianne, streicht das eine Gemälde mit dem anderen durch, Liz' Gesicht mit Mariannes Hintern. Liz ist bestürzt, Nicolas panisch, Marianne hoffnungslos verstrickt. Aber auch dieses Bild übermalt Frenhofer und malt endlich sein Meisterwerk, die Wahrheit über Marianne. Marianne erstarrt, als sie „diese kalte und trockene Sache“ sieht, Liz malt ein schwarzes Kreuz auf die Rückseite der Leinwand, Frenhofer schlägt ein grünes Tuch um das Bild und mauert es ein. La belle noiseuse beruht auf dem „Unbekannten Meisterwerk“ — eine Novelle von Balzac. Schnell malt Frenhofer ein letztes Bild, das er als neuerliche Übermalung ausgibt. „Danke“, sagt die ahnungslose Liz.

Die Beziehungen der vier sind zerschlagen, auch wenn der Anschein gewahrt bleibt. Es gibt eine epilogische Szene, ein kleines Abschiedsfest im Garten des Anwesens. Die vier führen ein unterkühltes Ballett aus gesellschaftlichen Konventionsgesten auf. „Nein“, sagt Emmanuelle als letztes. Der Film bricht ab. Das Unaussprechliche wird nicht gesagt, das Meisterwerk nicht gezeigt. Ein Meisterwerk.

Jacques Rivette: La Belle Noiseuse , nach einer Novelle von Honoré de Balzac, mit Michel Piccoli, Emmanuelle Béart, Jane Birkin, Frankreich 1991, ca. 240 Min.

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