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Paragraphen verhindern Pädagogik

■ Autonomes Mädchenhaus protestierte vor dem Gebäude des Jugendsenators mit Theaterstück gegen angedrohte Stellenstreichungen/ Staatssekretär wurde mit Tischtennisbällen beworfen

Berlin. Ein Mädchen wälzt sich in einem Käfig. Von weit her tönt die durchdringende Stimme der Eltern: »Wir wollen doch nur dein Bestes«, »Du bist doch Papas Liebling«, »Eine Ohrfeige hat schließlich noch niemandem geschadet«, »Du landest sowieso auf dem Strich«. Spät, aber doch noch findet das Mädchen einen Ausweg aus dem Käfig — das Autonome Mädchenhaus. Ein Theaterstück, aufgeführt vor dem Gebäude des Senators für Jugend und Familie. Mit dieser eindringlichen Darstellung der Situation von über 10.000 mißhandelten Berliner Mädchen protestierte das Autonome Mädchenhaus gestern gegen die angedrohten Stellenstreichungen.

Ab 1. Juli soll die Zufluchtsstätte mit sieben statt, wie bisher, neun Stellen auskommen. Das heißt: Zwei Mitarbeiterinnen weniger für die Betreuung von zehn Mädchen, die eine intensive Betreuung bitter nötig haben. Sexueller Mißbrauch, Gewaltanwendung sowie die noch immer übliche Zwangsverheiratung ausländischer Mädchen führen bei vielen zu Selbstmordgefährdung, Depressionen, Drogengebrauch oder Magersucht, betonten die Mitarbeiterinnen. Bedeutung einer Zufluchtsmöglichkeit mit intensiver Betreuung. Der zuständige Staatssekretär Klaus Löhe, den die Mädchenhaus-Mitarbeiterinnen im Anschluß an die Aufführung aufsuchten, sieht die Notwendigkeit einer derart intensiven Betreuung nicht: »Mehr als sieben Stellen sind für das Projekt weder zulässig noch erforderlich. Sie haben bisher einfach mit zuviel Personal gearbeitet«, beantwortet er die Forderung der Demonstrantinnen, die Stellenstreichungen zurückzunehmen. »Nicht in Frage stellen«, wolle er die Qualität der geleisteten Arbeit, aber wenn mehr Bedarf als Hilfsmöglichkeiten da seien, »dann stellen sie doch einen Antrag für ein zweites Mädchenhaus«. Die Mitarbeiterinnen waren fassungslos. »Wo kommt denn das Geld plötzlich her? Es kann Ihnen doch nicht lieber sein, zwei personell schlecht ausgestattete einem gut ausgestatteten Mädchenhaus vorzuziehen«, ereiferte sich eine. Löhe blieb gelassen. Das Mädchenhaus sei im vergangenen Jahr von der damaligen Senatorin Anne Klein eigenmächtig mit einem Überschuß an Stellen ins Leben gerufen worden. Nun müsse eine Angleichung an das geltende Anwendungsrecht stattfinden. »Wie viele pädagogische Argumente brauchen Sie eigentlich, um nicht ständig mit Paragraphen zu argumentieren?« fragte eine Mitarbeiterin, während aus den hinteren Reihen der Demonstrantinnen bereits statt der Argumente Tischtennisbälle auf den Staatssekretär einprasselten. Zu guter Letzt versprach Löhe immerhin, den Mitarbeiterinnen des Mädchenhauses einen erneuten Diskussionstermin einzuräumen. Jeannette Goddar

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