: neblig, regnerisch &c.
■ Journal einer Reise von New York nach London im Jahre 1849 von Herman Melville
Herman Melville führte Tagebuch auf einer Reise, die ihn 1948/50 von New York nach Europa führte, von London weiter nach Paris, Brüssel, Liege, Köln und Koblenz. Er war zu diesem Zeitpunkt dreißig Jahre alt und ein ebenso berühmter wie einflußreicher Schriftsteller. „Typee“, „Omoo“, „Mardi“, „Redburn“ und „Whitejacket“ waren bereits veröffentlicht. Der letztgenannte Roman, der die menschenunwürdigen Zustände auf einem amerikanischen Kriegsschiff anprangert, war an die Abgeordneten im amerikanischen Kongreß verteilt worden: auf den Schiffen der American Navy wurde daraufhin die Prügelstrafe abgeschafft.
Entsprechend selbstbewußt tritt Melville seine Reise an. In London will er „Whitejacket“ an einen englischen Verleger verkaufen. Viel mehr interessieren ihn allerdings die Antiquariate der Stadt. Die Bücher, die er bei seinen Streifzügen kauft, werden später in den „Moby Dick“ eingehen. Denn Melville weiß, daß er endlich das Buch schreiben will und muß, bei dem er keine Konzessionen mehr macht. „Es ist mein ernster Wunsch“, schrieb er an einen Freund, „die Art Bücher zu schreiben, von denen man sagt, daß sie schiefgehen.“
Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen. „Das Buch ist trostloses Zeug, stumpfsinnig und öde, oder lächerlich“, schrieb die Kritik. Auch mit seinen weiteren Veröffentlichungen blieb er glücklos; zu seinem zweiten umfangreichen Roman „Pierre or, The Ambiguities“, hieß es: „Es ist genau das, was ein tobender Irrer, der Jean Paul Richter in einer Übersetzung gelesen hat, auszuspucken sich gedrängt fühlen mag, unter dem Einfluß einer sonderbaren Mondscheinnacht.“; „Melville stand tatsächlich im Verdacht, geistesgestört zu sein, und seine Freunde haben Anstalten getroffen, ihn in Behandlung zu geben. Wir hoffen, daß eine der ersten Vorsichtsmaßregeln sein wird, ihn strengstens von Feder und Tinte fernzuhalten“; „Daß Herman Melville schlicht einen Dachschaden hat, steht sehr zu befürchten“ ... Melville, der sich und seine Familie als Autor nicht mehr ernähren konnte, trat 1866 eine Stelle als Zollinspektor am New Yorker Hafen an. Als er am 28.9.1891 starb, war er völlig vergessen.
Das in Kürze erscheinende 'Schreibheft‘, aus dem wir diesen erstmals in Deutsche übertragenen Text vorabdrucken, ist ganz Hermann Melville gewidmet. Es spannt einen Bogen zwischen der ersten großen Reise des Autors, auf die sich unser Text bezieht, zu seiner zweiten: als er im Oktober 1956 in den Nahen Osten aufbricht, hat er seine wichtigsten Romane („Moby Dick“, „Pierre“, „Bartleby“, „The Encantadas“, „Benito Cereno“ und „The Confidence Man“ schon geschrieben. Erst 37 Jahre alt, ist er als freier Schriftsteller gescheitert, leergeschrieben und auf Erholungsreise.
Fast alle Bücher Melvilles sind ins Deutsche übertragen, wobei die Übersetzungen wenig dazu angetan sind, seine Qualitäten als Autor zu bezeugen; als Ausnahme kann u.a. Uwe Johnsons Übersetzung des „Israel Potter“ gelten. Im neuen 'Schreibheft‘ finden sich neben der Erstübersetzung des Tagebuchs neuübersetzt u.a. zwei Kapitel aus „Moby Dick“ sowie drei Gedichte aus dem Band „Timoleon“, dazu Aufsätze zu Melville von Jean Pierre Lefebvre, Wolfgang Tietze, Paul Ingendaay, Olaf Hansen und Manfred Schneider, die eigens für dieses Heft geschrieben wurden. Falls nicht im Buchhandel, hier die Bezugsadresse: 'Schreibheft‘ Nr. 37: Herman Melville. Herausgegeben von Norbert Wehr; Rigidon Verlag, Nieberdingstr. 18, W-43 Essen 1, Tel. 0201 778111
Donnerstag, 11. Okt.
Nach einer Verzögerung von drei oder vier Tagen, infolge von Wind & Wetter, ging ich gegen 12 1/2 nachts bei heftigem kaltem Sturm von Westen mit den übrigen Passagieren an Bord des Schleppers Goliath. Die „Southampton“ (ein regelmäßiges Linienschiff nach London) lag im North River. Wir verfügten uns mit einigem Aufruhr an Bord, lichteten den Anker, & legten ab. Unser Lotse, ein großer, kräftig aussehender Bursche, glich eher einem Austernzüchter als einem Seemann. Gegen 2 Uhr kamen wir aus den „Narrows“; kurz darauf drehte der Schlepper ab, & der Lotse ging von Bord. Um halb 6 sahen wir zum letzten Mal Land, die Rahen waren ins Kreuz gebracht, & es wehte ein mäßiger Sturm. Während das Schiff unter doppelt gerefften Toppsegeln dahinjagte, ging ich an Deck spazieren & dachte darüber nach, was sie jetzt wohl zu Hause tun mochten, & an die letzten vertrauten Gesichter, die ich am Kai gesehen hatte — Allan war dort, & George Duyckinck, und ein Mr McCurdy, ein reicher Kaufmann aus New York, der einiges Interesse an den Aussichten seines Sohnes zu haben schien (eines kränkelnden Jünglings von zwanzig, der die Reise durch den Kontinent antrat), und der mein Zimmergenosse sein sollte. Doch zu meiner großen Freude machte der Kapitän nunmehr ein Versprechen wahr, das er mir früher gegeben hatte; & ich finde mich als einziger Passagier in einer großen Kabine. Sie ist beinahe so groß wie mein Zimmer zu Hause; & verfügt über eine geräumige Koje, einen großen Waschtisch, ein Sofa, Spiegel &c &c. Ich bin der einzige an Bord, dem die Ehre eines Raumes für sich allein zuteil geworden ist. Ich habe viel Licht, & ein kleines dickes Glasfenster in einer Wand, das ich bei gutem Wetter zum Lüften öffnen kann. Obwohl noch keine 24 Stunden an Bord, habe ich dadurch schon oft aufs Meer hinausgeblickt.
Freitag, 12. Okt.
Gestern abend bis acht Uhr an Deck gewesen; dann eine Partei Whist gemacht, & gespielt, bis einer der andern wegen Übelkeit sein Zimmer aufsuchen mußte. Früh ins Bett & fest geschlafen. Beizeiten aufgestanden & und in den Masttopp gestiegen, um die alten Gefühle wiederzubeleben. Der Ozean sah aus wie immer. Habe versucht zu lesen, fiel mir aber sehr schwer. Es sind jedoch einige sehr angenehme Passagiere an Bord, mit denen man sich unterhalten kann. Der vorzüglichste von ihnen ist ein Mr Adler, ein deutscher Gelehrter, den Duyckinck mir vorgestellt hatte. Er ist Verfasser eines formidablen Lexikons (deutsch & englisch); bei dessen Kompilation er sich beinahe die Gesundheit ruiniert hat. Eine Zeitlang, erzählt er mir, sei er schier verrückt gewesen. Er steckt voller deutscher Metaphysik, & spricht viel über Kant, Swedenborg &c. Mit ihm war ich bisher am meisten zusammen. Unter den Passagieren ist auch ein Mr Taylor, Cousin von James Bayard Taylor, dem Fußreisenden. Er ist ein rechter Spaßvogel — bzwwar einer.
— Just in diesem Moment höre ich seine mysteriösen Geräusche aus der Kabine neben meiner. Armer Kerl! er ist seekrank. Bis jetzt sind, dank dem freundlichen Wetter, nur wenige damit geschlagen. An Bord ist auch ein schottischer Künstler, ein Maler, mit einem höchst unpoetisch aussehenden Einzelkind, ein Junge, nichts als Backen & Stirn, erstere überwiegend. Der junge McCurdy ist ein lispelnder Jüngling von edlem Charakter, dabei aber recht gesellig. Wir haben mehrere Franzosen & Engländer. Einer der letzteren war auf der Jagd, & hat als Trophäen seiner Heldentaten in den Wäldern von Maine zwei prächtige Geweihe (Elche) im Gepäck. Wir haben auch eine mittelalte Engländerin, die unerschrocken an Deck umhergeht & mit ihren Seemannsbeinen großtut, & sich als alte Teerjacke aufspielt.
Samstag, 13. Okt.
Gestern sehr angenehmer Abend. Mit dem Deutschen Mr Adler an Deck bis spät in die Nacht, gesprochen über „Vorsehung, Freien Willen, absolutes Vorherwissen“ &c. Seine Philosophie ist der von Colderidge ähnlich: er akzeptiert die Bibel als göttlich, & nimmt sich dennoch die Freiheit, die Natur zu erforschen. Er ist nicht der Meinung, daß die Bibel absolut unfehlbar ist, & daß alles, was der Wissenschaft nach dagegen spricht, falsch sein muß. Er glaubt, es gibt Dinge außerhalb Gottes und unabhängig von ihm — Dinge, die auch exixstieren würden, gäbe es keinen Gott: — etwa, daß zwei & zwei vier ist; denn dies wird nicht von Gott mathematisch festglegt, sondern ist eine in der Natur der Dinge liegende Tatsache.
— Heute morgen früh aufgestanden, mein Bullaugen- Fenster geöffnet, & nach Osten geblickt. Eben ging die Sonne auf, der Horizont war rot; — für mich ein vertrauer Anblick, erinnert mich an alte Zeiten. Zur Ertüchtigung vor dem Frühstück auf die Mastspitze geklettert. Gegen 10 Uhr vorm. nahm der Wind zu, es regnete, & das Deck machte einen ziemlich traurigen Eindruck. Zur Essenszeit Wind auf halber Sturmstärke, & die meisten Passagiere zogen sich seekrank in ihre Kabinen zurück. Nach dem Essen hörte der Regen auf, aber es wehte noch immer eine steife Brise, & wir kamen unter dichtgerefften Toppsegeln nur langsam & schwerfällig voran — Großsegel festgemacht. Ich war an Deck, & sah einen der Zwischendeck-Passagiere über die Reling spähen; ich spähte ebenfalls, & erblickte im Wasser einen Mann, sein Kopf vollständig über den Wogen — etwa zwölf Fuß von der Schiffswand entfernt, gleich neben dem Fallreep. Einen Augenblick glaubte ich zu träumen; denn niemand sonst schien zu sehen, was ich da sah. Im nächsten Augenblick schrie ich „Mann über Bord!“ & wandte mich nach achtern. Der Kapitän rannte in großer Bestürzung nach vorn. Ich warf das Zugseil des Seitenboots über Bord, & schwang es nach dem Mann, der inzwischen nahe ans Schiff getrieben war. Er bekam es nicht zu fassen, & ich stieg über die Bordwand, nur ein oder zwei Fuß über der See, & schwang das Seil noch einmal auf ihn zu. Jetzt bekam er es in die Hände. Inzwischen drängte sich eine Traube von Menschen — Seeleute & andere — an der Reling; aber niemand schien bemüht, ihn zu retten. Dafür warnten siemich, nicht über Bord zu fallen. Nachdem der Mann sich etwa eine Viertelminute an dem Seil festgehalten hatte, ließ er es los, & trieb nach achtern unter die Besanketten. Vier oder fünf Seeleute sprangen rüber & in die Ketten & warfen ihm weitere Seile zu. Aber sein Verhalten war unerklärlich; er hätte sich retten können, wäre er dazu willens gewesen. Der Ausdruck seines Gesichts im Wasser bestürzte mich. Er sah heiter aus. Schließlich trieb er ab unter die Gillung, & alle riefen „Er ist weg!“ Wir liefen an die Heckreling, & sahen ihn noch einmal, von uns wegtreiben — sahen ein paar Luftblasen, & sahen ihn nie wieder. Kein Boot wurde hinabgelassen, kein Segel eingeholt, kaum ein Aufhebens wurde davon gemacht.
Der Mann ertrank wie ein Ochse. Hinterher stellte sich heraus, daß er verrückt war, & über Bord gesprungen war. Er hatte dies schon mehrmals angekündigt; & kurz bevor er dann wirklich sprang, hatte er versucht, sein Kind an sich zu reißen, um mit dem Kind in seinen Armen ins Meer zu springen. Seine Frau lag erbärmlich seekrank in ihrer Koje. Der Kapitän sagte, dies sei das vierte oder fünfte Mal, daß er erlebe, wie jemand über Bord springe. Er erzählte uns die Geschichte eines Mannes, der dies getan hatte, als seine Frau an Deck neben ihm stand. Als man ihn zu retten versuchte, sagte die Frau, es habe keinen Zweck; & als er ertrunken war, sagte sie „es seien noch genug andere Männer zu haben“ — Reizendes Wesen! — Gegen abend kam furchtbarer Sturm auf, & wir drehten bei. Elende Zeit! fast alle seekrank, & das Schiff rollte & stammte zum Erstaunen. Gegen Mitternacht stand ich auf & ging an Deck. Es stürmte fürchterlich — pechdunkel & Regen. Der Kapitän war in seiner Kajüte, & lenkte meine Aufmerksamkeit „auf diese Kerle“, wie er sie nannte — er meinte damit mehrere „Elmsfeuer“ auf den Rahnocken & Mastspitzen. Es waren die ersten, die ich je gesehen hatte, & glichen großen trüben Sternen am Himmel. [...]
Freitag, 2. Nov.
Wind von Osten — von vorn. Klarer & schöner Tag — doch jedermann schmerzlich enttäuscht. Ich denke, anstatt ganz herumzufahren, werde ich in Portsmouth von Bord gehen. Könnten immerhin heute abend eintreffen. Haben ein Lotsenboot von Portsmouth angerufen, aber keinen Lotsen an Bord genommen. Am Bill of Portland vorbei — woher der Portland-Stein stammt. Melancholischer Anblick, wahrlich weiße Klippen! Am Abend Schach gespielt, & mit meinem gelehrten Freund bis Mitternacht über Metaphysik disputiert.
Samstag, 3. Nov.
Um 6 Uhr mit der verrückten Vorstellung aufgewacht, daß wir vor dem Wind segelten, & binnen einer Stunde Portsmouth erreichen würden. Habe meinen Irrtum bald bemerkt. Gegen acht Uhr einen Lotsen an Bord genommen, der ein paar Zeitungen mitbrachte, zwei Wochen alt. Gegen 10 vorm. die Isle of Wight erreicht. High Land — The Needles. Wind von vorn, & wir lavieren. Laufen heute abend ein, oder morgen — oder nächste Woche oder nächstes Jahr. Verteufelt langweilig, & alles in allem zu dumm. XXXX Bei leichtem Westwind den ganzen Tag weiterlaviert. Den ganzen Tag die Isle of Wight & zahlreiche Schiffe in Sicht. Einer unserer Zwischendeckpassagiere ist mit dem Lotsenboot von Bord gegangen. Sonderbare Szene längsseits mit dem Boot. Am Abend alle Mann in bester Stimmung — im Damensalon Schach gespielt — noch eine Partie Karten; viel Gesang in der Herrenkajüte, & viel getrunken — sehr vergnügt & lautstark — Gestern abend dachte jeder. Entschlossen, in Portsmouth an Land zu gehen. Mich also entsprechend vorbereitet — Vorkehrung getroffen, meinen Überseekoffer zurückzulassen — ein oder zwei Hemden in Adlers Reisetasche gesteckt & ziemlich früh zu Bett.
Sonntag, 4. Nov.
Nach dem Aufstehen als erstes aus meinem Fenster gesehen, & wieder die Isle of Wight gesehen — sehr nahe — gepflügte Felder &c. Leichter Wind von vorn — hatten erwartet, kurz nach dem Frühstück einzulaufen. Gegen 10 vorm. die Ostspitze der Insel umfahren, dann vollkommene Windstille. Die Stadt durchs Teleskop zu sehen. Drei oder vier Stunden Flaute. Neblig, nieselig; beim Essen lange Gesichter — keine Porterflaschen. Endlich kam Wind von Westen auf. Rahen vierkant gebraßt & Kurs auf Dover genommen — Entfernung 60 Meilen. Gegen 6 Uhr (abends) an Dungenesse vorbei — dann den Leuchtturm von Beachy Head gesehen. Toppsegel dicht gerefft, um nicht zu schnell zu fahren. Rechne jetzt damit, morgen früh in Dover an Land zu gehen — dann via Kathedrale von Canterbury nach London. Geheimnisvolle Anspielung wegen meines grünen Mantels. Mit dem Lotsen über die Gefahren des Kanals gesprochen. Erzählte eine Geschichte von einer Brigg, die er in einen Dampfer gerammt hatte &c. — Es ist jetzt acht Uhr abends. Ich bin allein in meiner Kabine — Licht im Wasserglas. Trotz früherer Enttäuschungen spüre ich, daß dies meine letzte Nacht an Bord der Southampton ist. Morgen um diese Zeit werde ich an Land sein, & nach zehn Jahren wieder auf englischem Boden stehen — damals als Matrose, jetzt als H.M., Verfasser von „Peedee“, „Hullabaloo“ & „Pog-Dog“.
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
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