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Heimgeholt in die Enge

Uraufführung von Thomas Hürlimanns „Der Gesandte“ in Zürich  ■ Von Gerhard Mack

In diesem Jahr feiert die Schweiz ihren 700. Geburtstag. Das Datum ist zweifelhaft und meint allemal nicht den demokratischen bürgerlichen Staat. Angesichts von Bespitzelungs- und Bestechungsaffären bis zur jüngsten Verhaftung kurdischer Flüchtlinge haben viele gegen die Festivitäten protestiert. Zwei Autoren holen jetzt ein Stück Vergangenheit zurück ans Licht, das nur ungern als Teil der Schweizer Geschichte begriffen wird. Urs Widmer und Thomas Hürlimann schrieben Stücke über den Schweizer Botschafter in der Reichshauptstadt Berlin. Frölicher — ein Fest und Der Gesandte wurden innerhalb von sechs Wochen in Zürich uraufgeführt.

Zwei Stücke über Hans Frölicher, das sind ein Stoff, eine Person und zwei Themen. Die offizielle Schweiz verehrt als ihre Retter vor der Hitlerei gerne General Guisan und die Armee. Jenseits des antifaschistischen Traumbildes produzierte das Land für das nationalsozialistische Deutschland, hielt ihm das Tor zum Weltmarkt offen, hortete und wusch seine Gelder und schickte Juden von den Grenzen zurück in den Tod. Der Mann, der die vor Ort managte, war der Schweizer Gesandte Hans Frölicher. Er liebte Jagdausflüge, Frauen und Champagner, er tanzte auf vielen Bällen, der Unterschied zwischen einem Schweizer Demokraten und einem deutschen Faschisten war ihm nicht sehr klar, Rechtsgefühl empfand er eher in Wirtschaftsfragen als in humanitären Belangen; für den jungen Schweizer Hitler-Attentäter Maurice Bavaud rührte er keinen Finger. Frölicher war der exponierte Agent der „doctrine suisse“. Mit der deutschen Kapitulation wurde er zum Sündenbock, hinter dem sich mancher Anpasser verstecken konnte. Wenn der Botschafter die Kollaboration zu verantworten hatte, konnten General Guisan und der Mythos von der siegreichen militärischen Landesverteidigung gefeiert werden.

Urs Widmer interessieren die Muster der Geschäftsbedingungen, die Formen des Umgangs. Er sucht nach Fixpunkten eines Gesellschaftstableaus, die die Schweiz und Deutschland, 1941 und 1991 bestimmen. Der Plan eines Europa oder die Euphorie des Fortschritts sind brandaktuell. Widmer schaut von außen, sein Blick auf die Welt erkennt, mit Dürrenmatt, Funktionen, keine Individuen. Ihr Grauen ist eine Mechanik, darstellbar mit den Mitteln der Groteske, der Karikatur, des Kabaretts: der Botschafter als Operettengigolo, die Revue à la Zadek und Savary als Gesellschafts- und Theaterform. 24 Rollen sorgen für ein Fest, die elf Schauspieler der freien Truppe „Vaudeville Theater“ (unter der Regie des Berliner Multitalents Stefan Viering) im „Theaterhaus Gessnerallee“ für ein rasantes, von vielen bejubeltes Spektakel.

Thomas Hürlimann verfährt umgekehrt. Er vergrößert das Private und bleibt in der Vergangenheit. Der Gesandte spielt im Innenraum der Familie. Zu sehen sind die Enge in der Schweiz, nicht die Ausgelassenheit der Reichshauptstadt, die Kopfschmerzen, nicht das Fest. Das Kammerspiel von Bruder, Schwester, Vater findet statt am Tag der Rückkehr des Botschafters, dem 8.Mai 1945, und benötigt gerade 24 Stunden. Die Gesellschaft ist die kaum greifbare Außenwelt, die die Intimität zerstört. Hürlimanns Stück zeigt zunächst einmal den tiefen Fall eines Politikers (und Lebemannes), der die Illusion preisgeben muß, als Held seines Landes zurückgekehrt zu sein und, wenn schon nicht entsprechend geehrt, so doch als gefährliche politische Größe beobachtet und festgesetzt zu werden. Sein Land hat ihn bei der Einreise eine Stunde warten lassen, bei seiner Ankunft im Haus waren Elektriker zu Gange, die Telefonleitung ist tot, und vergeblich wartet man auf eine Staatskarosse zum Friedensball in Bern. Mag sein, daß die dubiosen Handwerker für die alte „Firma“ des Heimkehrers Wanzen gesetzt haben: Hürlimann läßt das offen und benützt die Ungewißheit als Katalysator, um die Phantasien des Botschafters nach außen zu treiben. Wie er im Gespräch mit dem Departementssekretär Hoby verkennt, daß sich die Hierarchie zwischen ihnen umgekehrt hat, entbehrt nicht der Komik. Wenn er in endlosen Monologen dem imaginären „Lukullus“ hinter den Wanzen Angebot auf Angebot unterbreitet, sich gegen eine Lebensgarantie öffentlich schuldig zu bekennen und belastendes Material über den Chef zu vernichten, wird er zu einem tragischen Monomanen. Als er die eigene Familie ins Unglück zu ziehen bereit ist, erreicht seine Verblendung eine Molièresche Peinlichkeit. Wenn schon abgesetzt, möchte er wenigstens Opfer eines ausgetüftelten Planes werden. Daß er einfach vergessen wird, ist das wirksamste Ende jeder Größe und die endgültige Heimholung des Weltmannes in die Schweizer Enge.

Die Unversöhnlichkeit eines Bedürfnisses nach Weite, Weltgewandtheit und Schönheit mit dem Selbstverständnis der Schweiz als Festung (oder als Gefängnis, wie Dürrenmatt kurz vor seinem Tod sagte), ist denn auch das eigentliche Thema Hürlimanns. Wie sehr da die Welten aufeinanderprallen, zeigen die Darsteller auf der Zürcher Pfauenbühne von Anfang an. Der Heimkehrer ist nach dem Bad ganz bonvivant, genießt seinen Whiskey, läßt die Haare fliegen und strotzt vor Selbstbewußtsein. Das Schönheitsbedürfnis seiner Schwester fertigt er mit einer Herzlosigkeit ab, die man nur in der Welt der Diplomatie erwirbt. Er spielt Klavier, zitiert Hölderlin und inszeniert sich noch, als seine Nerven bloßliegen. Ein Mann mit Kultur, Agilität und rhetorischem Talent. Hoby dagegen, der brave, hinterhältige Beamte mit Pomadenlocken, Brille und Schnauzbart ist ebenso Sinnbild der engen Schweiz wie Schwester und Vater. Die verhärmte Frau hat in dem Haus im Gebirge vom Leben nichts abgekriegt als den Wunsch danach. Den Vater spielt Hans Dieter Zeidler: ein Koloß aus Lebensfreude. Daß er blind ist, erleichtert seine Selbstgefälligkeit; als Oberst, der vom Krieg nur die markigen Sprüche kennt, fällt es ihm nicht schwer, zu General Guisans Siegesparade aufzurufen.

Gewiß, der Abend hat seine Längen. Daß diese Menschen bei aller Konversation allein bleiben, begreift man schneller als Hürlimann denkt. Ebenso hätten die Monologe des Gesandten Kürzungen vertragen. Schließlich ließe sich gegen den Autor und seinen Regisseur Achim Benning einwenden, daß das Kammerspiel eine Form der Jahrhundertwende ist, die wohlgesetzte Rede der Figuren das 19.Jahrhundert anklingen läßt, und der perfekte Naturalismus von Bühne und Spiel sich an Ibsen oder Schnitzler orientieren.

Wie zutreffend solche Beobachtungen immer sein mögen, als Argument halte ich sie für falsch. Wenn Stück und Inszenierung auf seltsame Weise ordentlich daherkommen, so wird hier die Form zum adäquaten Ausdruck einer Mentalität. Thomas Hürlimann und Achim Benning geht es erst in zweiter Linie um den politischen Skandal, die Apercus zur Schweiz sind eher flach. Der Fall des Gesandten gerät ihnen zum Schnitt in die Schweizerseele, der ihre Sehnsüchte und ihre Verführbarkeit bloßlegt. Hürlimanns Botschafter heißt Zwygart, nicht Frölicher, sein Fall meint Allgemeineres als ein historisches Tableau. Der Bühnenraum ist eine Mischung aus Wartesaal und Tunnelende. Wer durch die Felswand in den blasenden Föhn tritt, steht Eiger, Mönch und Jungfrau gegenüber. Das Leben verläuft zwischen dem Tunnel, durch den im 30-Minuten-Takt deutsche Züge fahren, zu den Bergen mit ihrem Zauberlicht. Die Enge und ihre Mystifizierung wird zum Sinnbild der Schweiz. Kann Theater mit einem politischen Stoff aktueller sein?

Thomas Hürlimann: Der Gesandte, Regie: Achim Benning, Bühne: Raimund Bauer. Mit René Ander-Huber, Edgar Selge, Kathrin Brenk. Schauspielhaus Zürich. 18., 23. und 25. Mai

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