DOKUMENTATION
: Der Weg in die Unabhängigkeit

■ Der Präsident der Sowjetrepublik Armenien im Gespräch

Seit den „Entwaffnungs“-Operationen sowjetischer und aserbaidschanischer Truppen gegen armenische Grenzdörfer, denen Dutzende Zivilisten zum Opfer gefallen sind, ist die Suche nach einer friedlichen Lösung des aserbaidschanisch-armenischen Konflikts noch schwieriger geworden. Lewon Ter-Petrossjan, einst verfolgter politischer Dissident und seit 9 Monaten gewählter Präsident Armeniens, will schrittweise und im gegenseitigen Einvernehmen mit der Sowjetunion sein Land in die Unabhängigkeit führen. Dem sowjetischen Sezessionsgesetz folgend, wird Armenien im September einen Volksentscheid über die Unabhängigkeit des Landes durchführen. Seither steht seine Regierung unter zunehmendem Druck der Sowjetzentrale.

Frage: Bedeutet die gegenwärtige Beruhigung der Lage an der Grenze, daß zwischen Ihrer Regierung und Gorbatschow eine Übereinkunft getroffen wurde?

Lewon Ter-Petrossjan: Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob die militärischen Operationen nicht schon bald wieder beginnen. Über zwei Punkte weigert sich Moskau weiterhin zu verhandeln. Erstens über die 104 armenischen Geiseln, die die Armee mitgenommen hat und die auf verschiedene Städte Aserbaidschans verteilt wurden. Der Chef des sowjetischen KGB, Wladimir Krjutschkow, hat mir versichert, daß ihr Leben nicht in Gefahr sei, aber er sagt nichts über eine Freilassung. Man muß betonen, daß 67 von ihnen Milizionäre (Polizisten, A.d.R.) sind, die übrigen sind Bauern, Funktionäre... Es gibt keinen einzigen Sidai (Partisanen, A.d.R.), was beweist, daß die Beschuldigungen des Kremls und der aserbaidschanischen Regierung haltlos sind. Zweitens verhindert Moskau weiterhin jeden Kontakt zwischen Armenien und Berg-Karabach, trotz der Versorgungsschwierigkeiten der Region.

Man munkelte, daß Sie bei Ihrem Treffen am 3.5. mit Gorbatschow übereingekommen sind, eine „Sicherheitszone“ zwischen Armenien und Aserbaidschan vorzusehen...

Das ist falsch. Der Vorschlag, beidseits der Grenze eine fünf Kilometer breite Zone einzurichten, scheint im Moment nur ein Manöver zu sein, um Berg-Karabach von Armenien völlig zu isolieren. Ich habe Michail Gorbatschow gesagt, daß wir nur unter zwei Bedingungen der Einrichtung einer solchen entmilitarisierten Zone zustimmen würden: sie muß auch von der aserbaidschanischen Seite respektiert werden, und die Straße nach Latschin, die einzige Verbindung zwischen unserer Republik und der autonomen Region, muß wieder freigegeben werden. Er hat das nicht akzeptiert. Wie soll man denn die barbarischen Methoden, die seit zwei Wochen gegen die armenische Bevölkerung zum Einsatz kommen, erklären? Das ist keine unkontrollierte Initiative der Militärs. Es handelt sich um einen zusammenhängenden Plan, der von Michail Gorbatschow im vorhinein akzeptiert wurde und der weiterhin seine Unterstützung findet. Wenn man schaut, was sich in der zweiten Maiwoche in Parawakar ereignet hat — 1.500 Soldaten, 40 Panzer, 10 Hubschrauber wurden in ein Dorf entsandt, wo es nur fünf Jagdflinten gab —, dann muß man sich fragen, worauf dieser Staatsterrorismus abzielt. Meines Erachtens handelte es sich zunächst darum, dem Präsidenten Aserbaidschans, Ayaz Mutalibow, der nunmehr die letzte Stütze des Kremls im Kaukasus ist, politische Hilfestellung zu leisten. Und schließlich war und bleibt das Ziel, die armenische Bevölkerung zu terrorisieren, damit sie jetzt, wo wir uns auf dem Weg in die Unabhängigkeit befinden, das Vertrauen in ihre Institutionen verliert. Wie im Januar in den baltischen Ländern wird, da bin ich sicher, gerade das Gegenteil erreicht: die Armenier scharen sich um ihre Regierung. Sie lassen sich nicht einschüchtern.

Man hört hier in Eriwan mitunter, daß die Armenier nach dem Erdbeben von 1988, den antiarmenischen Pogromen in Aserbaidschan und der jüngsten sowjetischen Militäroffensive „müde“ sind. Gewisse Stimmen meinen sogar, daß Sie sich damit abgefunden haben, daß Berg- Karabach für immer verloren ist...

Ja, das Ziel Moskaus ist in der Tat, eine Republik zu demoralisieren, die sich, ohne eine Konfrontation zu suchen, auf die Unabhängigkeit vorbereitet. Aber wir haben dem etwas entgegenzusetzen, vor allem die autonome Wirtschaftspolitik, die wir vor zwei Monaten in Gang gesetzt haben. Von den 450.000 Hektar bebaubaren Bodens, über den Armenien verfügt, wurden 250.000 bereits Privatbauern zugeteilt, 100.000 bleiben in Staatsreserve, aber der Privatisierungsprozeß wird sich fortsetzen. Seine Auswirkungen sind jetzt schon zu spüren: Während es in der übrigen Sowjetunion zu gewaltigen Preiserhöhungen gekommen ist, sind auf den lokalen Märkten Armeniens die Preise für landwirtschaftliche Produkte auf dem Niveau des letzten Jahres geblieben. Was nun Berg-Karabach betrifft, kenne ich die Beschuldigungen, die vom Revolutionären Bund Armeniens oder von dem, was von der Kommunistischen Partei übriggeblieben ist, vorgetragen werden. Unsere Position hat sich nicht verändert: Man muß das Problem auf friedlichem Weg lösen, man muß verhandeln. Berg-Karabach wird weiterhin als Druckmittel gegen Armenien eingesetzt, aber wir werden auf unseren Positionen beharren.

Die Regierung Aserbaidschans spricht von 304 militärischen Operationen der armenischen Guerilla seit Jahresbeginn. Dabei seien 61 Personen getötet worden. Operieren auf Ihrem Territorium weiterhin unkontrollierte Gruppen?

Diese Angaben entsprechen nicht der Realität. Anfang Februar habe ich den sowjetischen Stellen einen umfassenden Bericht vorgelegt. Daraus geht hervor, daß es 1990 in der Region zu 160 militärischen Zwischenfällen gekommen ist, 156 richteten sich gegen armenische Dörfer und vier gegen aserbaidschanische. Niemand hat diesen Bericht in Frage gestellt. Zwischen dem vergangenen September und Januar dieses Jahres ist es uns gelungen, sämtliche Gruppen, die sich in Armenien außerhalb der Legalität bewegten, zu neutralisieren. Die gesamte Führung der armenischen Nationalarmee wurde verhaftet, ein Teil ist bereits verurteilt. Die besten Elemente dieser Gruppen wurden in die regulären Sicherheitskräfte der Republik integriert. Das war weder ein einfacher noch ein leichter Prozeß. Ich selbst war mehrere Male Ziel von Attentaten, mein Haus wurde angegriffen, aber wir haben nicht nachgegeben, wir haben eine totale Normalisierung erreicht. Die militärische Kampagne, die die Sowjetunion gegen unsere Dörfer gestartet hat, kann gewisse Elemente nur dazu ermutigen, die Waffen wieder zu ergreifen.

Diesbezüglich möchte ich betonen, daß der Konflikt, den es nun schon seit drei Jahren zwischen Armenien und Aserbaidschan gibt, nicht auf ethnischem oder religiösem Haß gründet. Bis vor kurzem konnte man dies noch meinen. Aber die Haltung der Armee und der Sowjetmacht beweist, daß es in Wirklichkeit um einen Konflikt zwischen Armenien und dem Reich geht.

Wie kann Armenien nach einem Unionsaustritt seine wirtschaftliche Unabhängigkeit erhalten?

Wir sind auf dieser Ebene nicht allzusehr im Verzug. Auf die Privatisierung des Bodens, der kleinen und mittleren Unternehmen, allen voran im Dienstleistungssektor, wird eine Umgestaltung der großen Industrie folgen. Es geht darum, umweltfreundlich beschäftigungswirksam zu produzieren, also etwa Elektronik und Informatik zu fördern. In diesem Jahr hätte uns die Union 1,8 Milliarden Rubel übergeben müssen. In den ersten vier Monaten haben wir keine Kopeke erhalten. Angesichts dessen, was in der Sowjetunion abläuft, wo das Geld seine Bedeutung verliert und wo versucht wird, die Wirtschaft über den direkten Güteraustausch von Unternehmen zu Unternehmen, von Republik zu Republik wieder auf die Beine zu bringen, müssen wir uns selber helfen. Wir zählen sehr auf die wirtschaftliche Öffnung der Türkei und des Iran. Wir sind auf sie für unseren internationalen Handel angewiesen, und sie benötigen uns, um auf die sowjetischen Märkte vorzustoßen. Die Beziehungen mit diesen beiden Ländern sind dabei, sich zu verbessern, eine iranische Handelsdelegation wird in Eriwan erwartet. Die westlichen Investoren halten sich noch zurück. Aber wenn sich der regionale Markt entwickelt, wird dies zweifellos auch auf sie eine Anziehungskraft ausüben.

Entnommen aus Libération vom 13.5.91.

Übersetzung: thos