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Bloß keine Gefühle

■ Anders als Hollywood und anders als europäisches Autorenkino: Atom Egoyans kanadischer Film „The Adjuster“ in der „Quinzaine des Réalisateurs“

Atom Egoyan ist ein existentialistischer Mystiker und Kanadas Anti-Anti-Intellektueller. In der Filmwelt, der Hochburg des Visuellen und der Emotion, nimmt er mit seinen Filmen Next of Kin, Family Viewing, Speaking Parts und dem neuen The Adjuster eine einsame Position ein. Die Idee kommt bei ihm vor der Form. An erster Stelle steht die Analyse, dann die Story und die Charaktere. Und gewiß kommt sie lange vor dem, was das klassische Kino ausmacht: daß das Publikum auf die Gefühle des Helden fixiert ist. Egoyan beschäftigt sich mit den Zwangslagen, in die das Bewußtsein und die Gefühle kommen können. Aber die Zuschauer sollen darauf nicht emotional reagieren, sie sollen sich Gedanken machen. Wahrscheinlich geht er abends ins Bett und betet: Lieber Gott, segne und behüte uns und bewahre uns vor den Gefühlen des Publikums.

So fordert Egoyan nicht nur die hollywoodsche Manier des Filmemachens heraus, sondern auch die europäische Schule. Mit Ausnahme des politischen Films veranschlagt diese die Emotion ebenfalls höher als die Analyse. Egal, wie rebellisch sie sich dem Hollywood-Kino gegenüber verhält, sie besteht darauf, daß die Emotion das eigentliche Terrain des Kinos ist. Doch Egoyans Interessen sind philosophischer Natur. Sein spezielles Anliegen ist die Art und Weise, wie der einzelne seine Erfahrungen mithilfe der Lesarten, die die Kultur ihm zur Verfügung stellt, bewertet und interpretiert. In seinen früheren Filmen zeigte Egoyan, wie Gier, Betrug, Loyalität usw. in unterschiedlichen sozialen Kontexten und in verschiedenen cineastischen Formen aussehen — vom Super-8- Video bis zum 35-mm-Film. So befragt der Regisseur seine Zuschauer, ob sie Ereignisse anders beurteilen, wenn sie anders als gewöhnlich präsentiert werden.

In The Adjuster zeigt Egoyan zwei Figuren: den Schadenssachverständigen einer Versicherung (Elias Koteas), der das Inventar von Geschäften und Wohnungen exakt auflistet, und seine Frau (Egoyans Lebensgefährtin Arsinee Khanjian), die für die kanadische Zensurbehörde Pornographisches registriert. Beide fertigen Listen und Beurteilungen an, beide leiden darunter, daß die Bedeutung eines Dialogs oder eines Möbelstücks nur durch persönliche Erfahrungen bestimmt werden kann. Was für den einen Müll ist, ist dem anderen Millionen wert. Beide Figuren schaffen es nicht, sich auf ihre eigene Erfahrung zu verlassen, und so versuchen sie, Identität und ein Wertsystem zu finden, indem sie sich in die Lage anderer Leute versetzen. Der Schadenssachverständige wird immer genau das sein, was seine Klienten brauchen — heterosexueller Liebhaber, homosexueller Liebhaber, Sohn — um buchstäblich Bestandteil ihres Lebens zu sein.

Egoyan zufolge ist der schwierigste Aspekt des Filmemachens „das Widerspiegeln von Strukturen und Ideen bei gleichzeitiger Vermeidung eines Rückfalls in bereits existierende Formen, die ich dann einfach mit Persönlichkeit anreichere“. Seine früheren Werke hat er strukturiert, indem er einen Dialog auf verschiedene Arten filmte und die Takes miteinander verschnitt. The Adjuster ist wie eine Liste aufgebaut. Listen von Ideen, wie man zu Identität und einem Wertesystem kommt, werden durch die Charaktere entwickelt und dann miteinander verschränkt.“ Dieses Zusammenspiel formt den Film. Egoyan zwingt die Zuschauer, ihre persönlichen Wertvorstellungen mit den gesellschaftlich gängigen zu konfrontieren. Sie sollen sich dabei ständig bewußt sein, daß sein Film ein kulturelles Kraftfeld ist, dem sie nicht zu nahe kommen dürfen. Vielleicht liegt Egoyans größte Leistung in dem Balanceakt mit seinem Publikum zwischen Anteilnahme und Distanz. Er verführt sie mit Bildern wie aus einem Schauerroman und mit Plots voller Gespür für das Geheimnisvolle. Aber er besteht darauf, die Gemüter der Zuschauer ruhig zu halten. Egoyan ist der Skeptiker aller Skeptiker. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Inge Wünnenberg

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