: Beginn der indischen Parlamentswahlen
Unter starken Sicherheitsvorkehrungen sollen bis zum kommenden Sonntag eine halbe Milliarde InderInnen wählen ■ Aus Delhi Sheila Mysorekar
In der größten Demokratie der Welt haben gestern die Wahlen begonnen. Am 20., 23. und 26. Mai wählen die etwa 520 Millionen registrierten Wählerinnen und Wähler die 543 KandidatInnen für das Lok Sawha, das Unterhaus des indischen Parlaments.
Diese Wahlen sind die zehnten seit der Unabhängigkeit, und zum ersten Mal geht es nicht nur um eine Entscheidung für oder gegen die Kongreßpartei — die Partei Nehrus, seiner Tochter Indira Gandhi und nun ihres Sohnes Rajiv Gandhi —, die über vierzig Jahre die indische Politik bestimmte. Heute ist die Kongreßpartei eine von drei fast gleichgewichtigen politischen Kräften, die um die Macht ringen. Die Nationale Front um die Janata Dal Partei des ehemaligen Präsidenten V.P. Singh und die Bharatiya Janata Partei, die mit aggressiven Parolen der Stärkung des Hinduismus wirbt, stehen der Kongreßpartei gegenüber.
Diese Wahlen finden unter Sicherheitsvorkehrungen in bisher nie gekanntem Ausmaße statt. Zehntausende von Polizisten und paramilitärischen Einheiten sind zum Schutze der Wahlbüros abkommandiert worden. So stimmen die einzelnen Staaten Indiens vor allem auch deswegen an drei verschiedenen Tagen, damit die Schutztruppen Zeit haben, sich an ihren nächsten Posten zu begeben.
Diese Maßnahmen sind notwendig, weil es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Wahlfälschungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen ist. Vor allem in den nördlichen hindisprachigen Staaten: Haryana, Uttar Pradesh und insbesondere Bihar. Und auch im Vorfeld dieser Wahl gab es gewalttätige Auseinandersetzungen. Am Sonntag abend starben vier Menschen durch ein Attentat auf einen Abgeordneten der Kongreßpartei in Neu Delhi, 37 weitere wurden verletzt. In vielen Fällen wurden Anhänger einer Gegenpartei verprügelt, das Auto oder das Haus eines Kandidaten angezündet oder Kandidaten einfach erschossen. Diesmal ist in elf Wahlkreisen die Wahl abgesagt worden, weil ein Kandidat getötet wurde. In Kashmir wird überhaupt nicht gewählt, im Punjab erst im Juni.
Die Wahlkommission hat die Situation in ungefähr zwei Dritteln der Wahlkreise als kritisch eingestuft. Dort wird die lokale Polizei durch paramilitärische Kräfte verstärkt. Jeden Tag werden neue Zwischenfälle bekannt. Mehr als hundert Menschen sind bereits im Zusammenhang mit der Wahl getötet worden. In einigen Städten im Norden herrscht Ausgangssperre. Bewaffnete Banden bieten Geleitschutz für ihre Kandidaten. Sollten dessen Gewinnchancen schlecht stehen, dann werden sie seinem Wahlsieg eben nachhelfen.
Der Sieger wird in der nächsten Wahlperiode für den Schutz seiner Gang vor Verfolgung sorgen. Seit Bekanntgabe des Wahltermins sind die Preise für illegal gehandelte Waffen und Munition um das vierfache gestiegen.
Ein Wahlkampf mit Waffengewalt ist vor allem in den Dörfern des Nordens zu finden. Ein solches Dorf ist Jakhoda im Staat Haryana, nordwestlich von Delhi. Das Dorf Jakhoda liegt in einem Jat-Gebiet. Jats sind die reichen und mächtigen Landbesitzer, die hier Menschen wie Politik kontrollieren. Es herrschen noch weitgehend feudale Strukturen. Der Staat Haryana wird vom Klan des Großbauern Devi Lal regiert. Devi Lal war bei der Janata Dal Regierung V. P. Singh stellvertretender Regierungschef.
In Haryana ist er uneingeschränkter Herrscher, so auch über Jakhoda, ein relativ reiches Dorf. Etwas über zweitausend Wahlberechtigte gibt es hier, von denen ungefähr die Hälfte zur Abstimmung gehen. Ein Janata- Dal-Kandidat hat bisher den Wahlkreis im Lok Sawha vertreten. „Für mich hat sich in den letzten Jahren nichts verbessert, sagt ein einundzwanzigjähriger Landarbeiter. „Ich gehe zwar wählen, aber eigentlich finde ich es sinnlos. Es bleiben doch immer dieselben an der Macht.“ Es ist ihm sichtlich unwohl, dies so deutlich auszusprechen. Seinen Namen will er auch lieber nicht sagen. Eine alte Bäuerin drückt es ähnlich aus: „Wir müssen wählen, damit unser Kandidat wieder in das Lok Sawha kommt. Wir wählen alle immer denselben, uns bleibt nichts anderes übrig“, sagt sie und dreht sich um und geht eilig weg. Wahlfälschungen kommen auf dem Land häufiger vor als in der Stadt. In den Städten gibt es eine bessere Kontrolle des Ablaufs von Anfang bis Ende.
In Delhi vor dem Wahllokal des alten Viertels von Chandni Chowk stehen schwerbewaffnete Polizisten. In dieser Gegend wohnen viele Moslems. Der Imam in der Moschee hat sie aufgefordert, für die Janata Dal zu stimmen. Viele Hindus, und das sind hier vor allem die Kleinhändler, haben sich auf die Seite der Bharatya Janata Partei (BJP) geschlagen. Die Präsenz der BJP ist im Viertel unübersehbar. Tausende kleine Fahnen sind an Schnüren über die Gassen gespannt.
Im Wahlbüro selber hat jede Partei ihren Wahlhelfer sitzen, die sich gegenseitig kontrollieren. Jeder von ihnen hat lange Wählerlisten in der Hand. Jeder Wähler oder Wählerin kommt mit einem Registrierungszettel ins Wahllokal, dort wird der Name auf der Wählerliste gesucht.
Die Markierung eines Fingernagels mit wasserfester Farbe verhindert, daß jemand im Namen von verschiedenen Personen mehrmals wählt, wie es früher öfter vorgekommen ist. Der Wahlleiter wird von der Regierung gestellt. Er kümmert sich um Fälle, bei denen jemand nicht auf der Wählerliste verzeichnet ist, und berät sich mit den Wahlhelfern. Es geht diszipliniert und auf jeden Fall demokratisch zu: Zwischen Delhi und den Bandenkriegen vor den Wahlen in Bihar ist ein großer Unterschied.
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