: »Der Lärm von tausend Vögeln ist bald verstummt«
In einem kurdischen Flüchtlingslager an der türkisch-irakischen Grenze versorgen Berliner HelferInnen seit vier Wochen Kranke und Verletzte/ Inzwischen haben sich Tausende wieder auf den Weg in die Heimat gemacht, wo medizinische Hilfe ebenso dringend benötigt wird ■ Aus Yekmal Andrea Böhm
Maradonnas Training fällt heute aus. Der Regen hat in der Nacht den Boden aufgeweicht und ist für Gesunde schon schwer begehbar. Auf einem Bein und zwei Krücken läßt sich im knöcheltiefen Schlamm beim besten Willen nicht laufen. Also bleibt er im Bett, verscheucht ab und an die Fliegen aus seinem Gesicht, beißt die Zähne zusammen und spannt vorsichtig den abgemagerten Muskel seines rechten Beines an. Maradonna, exercise your leg, lautet die tägliche Verordnung der Pfleger und Ärzte. Der 16jährige quittiert die Ermahnungen mit einem Lächeln und einem Ausdruck stillen Triumphes im Gesicht — als würden ihn diese Worte allein schon gesund machen.
Maradonna — so nennen sie ihn im Flüchtlingslazarett von Camp 4, seit er vor vier Wochen, bekleidet mit einem Fußballtrikot, eingeliefert wurde — der rechte Oberschenkel von den Kugeln irakischer Soldaten zerschossen. Aus seinem Bein ragen nun vier Metallstangen, die den gebrochenen Knochen fixieren. Er wird wieder laufen können, irgendwann, weil er einfach Glück gehabt hat. Das Glück, nicht in einem anderen, schlechter ausgestatteten Flüchtlingslager gelandet zu sein, wo er vielleicht verreckt wäre. Und das Glück, im Gegensatz zu seinem Bettnachbarn nur angeschossen worden zu sein. Dem hat eine Landmine auf der Flucht das halbe Bein zerfetzt. Wie versteinert starrt der Mann stundenlang an die Zeltdecke, um den von Desinfektionsmitteln rot gefärbten Stumpf an seinem Körper nicht sehen zu müssen.
Draußen beginnt der Lazarettalltag erst einmal mit einigen Kraftausdrücken. Fluchend und stöhnend bahnen sich ÄrztInnen, PflegerInnen und die Techniker den Weg durch den Schlamm zu ihren Zeltstationen. In ihren kniehohen Gummistiefeln sieht Karin Fliegner um die Füße herum eher wie eine Kanalarbeiterin als wie eine Kinderkrankenschwester aus. Die sechs Betten in ihrem Kinderzelt sind zumindest trocken geblieben. Die sieben kleinen Patienten werden wie jeden Morgen gewogen, ihr Fieber wird gemessen. Die meisten leiden an Unterernährung und Wassermangel, sind von den Strapazen und dem Schock der Flucht gezeichnet. Riesige Augen in vergreisten Gesichtern, Arme und Beine, die kaum den Durchmesser eines Daumens ausmachen. In einem Wäschekorb, durch Isolierfolie vor Kälte und mit Gazestreifen gegen Fliegen geschützt, liegt ein acht Tage alter Säugling. 1.800 Gramm ergibt das allmorgendliche Wiegen. Überlebenschancen? »Eigentlich keine«, sagt Karin Fliegner. Kaum vorstellbar, wie die Ärzte es geschafft haben, diesem Kind eine Kanüle in die Nase einzuführen, um es künstlich zu ernähren.
Die Sterbeziffern sind nach den ersten Wochen Lazarettbetrieb drastisch zurückgegangen. Anfangs starben fünf oder sechs Kinder täglich — ganz zu schweigen von den unzähligen Toten, die jeden Tag von Familienangehörigen aus den Zelten und Plastikhütten gezogen und auf dem selbst angelegten Friedhof bestattet wurden. Heute stirbt noch ein Kind pro Tag.
Vor knapp zwei Wochen haben Karin Fliegner und Gertrude Neumann, beide Kinderkrankenschwestern am Klinikum Buch, sowie zwei weitere ÄrztInnen das erste Hilfsteam der Berliner Ärztekammer im Flüchtlingscamp 4 an der türkisch- irakischen Grenze abgelöst. Ihre VorgängerInnen hatten zuvor unter Leitung des Deutschen Roten Kreuzes zusammen mit anderen Hilfsorganisationen und der Bundeswehr in dem Flüchtlingslager mit über 100.000 Menschen das Lazarett aus dem Boden gestampft. Es gab anfangs weder Latrinen für das Hilfspersonal noch Strom für das Operationszelt, es fehlten Medikamente, Instrumente, während vor den ersten Lazarettzelten eine scheinbar unendliche Schlange von PatientInnen wartete. Menschen mit Schußwunden wie Maradonna, Flüchtlinge mit Napalmverbrennungen, ausgehungerte und fast verdurstete Kinder, von denen in den ersten Tagen täglich 50 oder 60 starben — an Wassermangel, an Diarrhoe, an Erschöpfung. Dringend benötigte Hilfsgüter blieben im Zolldschungel der türkischen Behörden hängen, die durch bürokratische Hindernisse immer wieder ihre eigene Souveränität zu demonstrieren versuchten. Es fehlte jedoch vor allem an sauberem Wasser. Der Bach, der mitten durch das Lager fließt und die Grenze zwischen dem Irak und der Türkei markiert, hatte sich in kürzester Zeit in eine Seuchenquelle verwandelt. Den einen diente er als Müllhalde und Kloake, die anderen schöpften ein paar Meter weiter ihr Trinkwasser ab.
Vor dem physischen und psychischen Zusammenbruch bewahrte die Helfer nach sechzehn oder achtzehn Stunden Untersuchen, Operieren, Verbinden, Impfen und Spritzen oft nur die blanke Erschöpfung. In der ersten Woche sei er wie betäubt gewesen, sagt Dr. Hassan Ali, kurdischer Arzt aus Berlin und Mitglied des Ärztekammer-Teams, »in der zweiten gewöhnt man sich an die Bedingungen, in der dritten wird man aggressiv.« Gewöhnt haben sie sich inzwischen an fast alles: an die mehrstündigen Operationen, die im OP- Zelt oft bei Temperaturen über 30 Grad durchgeführt werden müssen; an den Gestank von Müll, Essensresten und Fäkalien, der je nach Windrichtung von links oder rechts an der Nase vorbeizieht; an die Bundeswehrhelikopter, die das Lazarett mit allem Lebensnotwendigem versorgen, bei der Landung aber jede Tablettenschachtel mit Staub überziehen; und an die nächtlichen Schießereien, die sich türkische Grenzsoldaten immer wieder in hörbarer Nähe mit tatsächlichen oder imaginären Guerillakämpfern liefern.
Nach drei, spätestens vier Wochen, sagt Hassan Ali, ist die Belastungsgrenze des einzelnen erreicht. Dann sollte das Personal ausgewechselt werden. Er selbst hat diese Frist bereits überschritten, »aber ich halte das durch. Das ist mein Volk.«
Inzwischen haben Techniker und Ingenieure des Malteser Hilfsdienstes eine Wasseraufbereitungsanlage installiert. Blaue Hartplastikrohre schlängeln sich zwischen den Flüchtlingszelten durch, alle hundert Meter sind Wasserhähne montiert. Das Lazarett ist auf 105 Betten angewachsen, 130 Patienten werden behandelt, das Personal arbeitet mittlerweile im Schichtdienst — aber nach wie vor sieben Tage die Woche. »Das Schlimmste«, sagt eine DRK-Helferin, »ist überstanden.«
Abführmittel in den Spendenpaketen
Es hat Pannen gegeben, wie es sie bei jeder Hilfskampagne dieser Dimension immer geben wird. Aber, sagt Hassan Ali, »man hätte manches vermeiden können, wenn man vorher mit kurdischen Ärzten geredet hätte. Die wissen doch, was ihre Leute brauchen.« Medikamente gegen Tbc und Augenkrankheiten zum Beispiel, die am Anfang fehlten. Dafür, so berichten PflegerInnen, fanden sich unter den Hilfsgütern Spenden wie Schlankheits- und Abführmittel — für ein Flüchtlingslager, in dem Unterernährung und Diarrhoe grassierten. »Das ist das Geschäft mit den Spendenbescheinigungen«, kommentiert lakonisch eine DRK-Helferin. »Das ist eine Riesensauerei«, formuliert es ein Kollege drastischer. Eine Lieferung mehrerer Kartons mit Damenbinden mußte schließlich verbrannt werden, da die weder als Windeln noch als Verbandsmaterial zu gebrauchen waren und nur dringend benötigten Platz in den Zelten blockierten.
Notfall aus Camp 8
Das Lazarett ist längst auch Anlaufstelle für Kranke und Verletzte aus anderen Flüchtlingslagern, die medizinisch schlechter versorgt sind. »Notfall aus Camp 8«, schreit plötzlich jemand am Eingang. Camp 8 nahe des türkischen Dorfes Cukurca ist nach wie vor mit 100.000 Menschen völlig überfüllt. Französische Ärzte haben vorige Woche erste Cholerafälle gemeldet. Sekunden später taucht der Hubschrauber am Himmel auf, setzt mit ohrenbetäubendem Motorenlärm zur Landung an und unterbricht für Minuten jede Kommunikation im Camp. Bergwachthelfer bringen die Patientin auf einer Trage ins Lazarett — eine alte Frau, der kein Arzt mehr helfen kann, die nur noch eines braucht: einen halbwegs würdevollen Platz zum Sterben. »Was sollen wir machen«, sagt einer der Ärzte verzweifelt, »wir haben keinen Platz.« Sie machen dann doch noch eine Ausnahme. Für die letzten Stunden ihres Lebens erhält die Frau ein Bett im Lazarett.
Der Flüchtlingstreck zieht wieder in den Irak
»Der Lärm von tausend Vögeln«, wie Hassan Ali die Wochen beschreibt, als sich noch 80.000 in Zelten, Plastikplanen und ausrangierten Fallschirmen an die Berghänge preßten, ist fast verstummt. Täglich machen sich Hunderte von Familien in Bussen und auf Lastwagen auf den Heimweg in die von den Alliierten kontrollierte Schutzzone. Vertreter des Flüchtlingskommissariates der UNO organisieren die Verteilung der Plätze, die amerikanische Armee hat Fahrzeuge angemietet. Man hat es sichtbar eilig mit dem Rücktransport der Flüchtlinge. Die Amerikaner wollen sich, wie ihr Außenminister ungeschminkt verkündet, möglichst schnell aus der Region zurückziehen; aus den ersten kleineren Camps an der türkisch-irakischen Grenze werden amerikanische Soldaten abgezogen. Die Flüchtlinge sehen sich nun mit türkischem Militär konfrontiert. »Kein beruhigender Ausblick«, wie eine Kurdin versichert, die sich noch zu gut an Gewehrkolben schwingende türkische Soldaten erinnern kann, die in den ersten Tagen des Flüchtlingsdramas verhindern sollten, daß die irakischen Kurden sich auf türkischem Territorium in Sicherheit bringen.
Vor Karin Fliegners Kinderzelt ist ein Vater aufgetaucht, der sein krankes Kind holen möchte. Die Familie will morgen in aller Frühe im Lastwagenkonvoi nach Hause fahren. Die beiden Berliner Krankenschwestern versuchen, dem Mann noch ein paar Tage abzuringen — noch sei sein unterernährtes Kind nicht kräftig genug für die Reise. Er zuckt ratlos mit den Schultern. Was soll er machen, wo er doch für den nächsten Tag zur Abfahrt registriert ist. Sie werden ihm das Kind mitgeben müssen, ein paar Medikamente, Milch und sauberes Wasser dazu. »Ich möchte nicht wissen«, sagt Karin Fliegner, »wie viele Kinder wir hochgepäppelt haben, die dann auf der Rückreise gestorben sind.« Für die Trecks zurück in den Nordirak gibt es keine ambulante medizinische Begleitung, den Konvoi gestern haben zwei Kinder nicht überlebt.
In zwei, vielleicht drei oder vier Wochen wird auch Camp 4 verlassen sein. Die Arbeit an der türkisch-irakischen Grenze ist damit fürs erste getan. Im Irak fängt sie erst an. Die Kurden kehren meist in zerstörte, geplünderte Dörfer zurück, in denen weder Wasserversorgung noch die Stromleitungen oder die Krankenhäuser funktionieren. Die kleineren Hilfsorganisationen wie der Arbeitersamariterbund oder die Malteser sind den Flüchtlingen bereits in den Irak gefolgt. Das DRK erwägt, das Lazarett demnächst in den Irak zu verlegen. Vieles muß dann möglicherweise neu aufgebaut und beschafft werden: Die Ausfuhrzölle der türkischen Behörden für Fahrzeuge, Maschinen und medizinisches Gerät, so wird befürchtet, werden so hoch liegen, daß es billiger ist, das Material gleich dort zu lassen.
Wenn der Tag, so wie heute »normal« gelaufen ist, kann Karin Fliegner nach zwölf oder dreizehn Stunden Dienst Feierabend machen. Wenn das Wasser noch nicht abgedreht ist, steht eine kurze Dusche als Belohnung an. Es war kein schlechter Tag. Die Kinder in ihrem Zelt haben ihn alle überlebt — auch die beiden Neugeborenen in den Wäschekörben. Die Sonne hat den ganzen Tag geschienen und den Schlamm getrocknet. Morgen werden die Helikopter die Zelte wieder einstauben und Maradonna wird wieder trainieren.
Unter dem Stichwort »Berliner helfen Kurden« sammelt die Berliner Ärztekammer weiterhin Spenden: Berliner Sparkasse, Kontonummer: 990004090, BLZ 10050000.
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