: Lernen folgt aus Erschütterung
Ein Gespräch mit Klaus Pohl, Dramatiker, Regisseur, Schauspieler ■ Von Lore Kleinert
Wenn es im Theater so etwas wie den „Mann des Monats“ gebe, so hieße er im Mai 1991: Klaus Pohl. Gleich zwei neue Stücke werden in diesem Monat von ihm uraufgeführt: am 12. Mai „Die schöne Fremde“ (vgl. Kritik vom Samstag) im Rahmen der Ruhrfestspiele; am 16. Mai hob sich im Hamburger Schauspielhaus der Vorhang für „Karate-Billy kehrt zurück“, der Autor selbst hat das Stück inszeniert (siehe Kritik unten).
Lore Kleinert: „Das Alte Land“, Ihr Stück aus dem Jahre 1984, führte in den Norden Deutschlands und in die Zeit der Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer im Winter 1946/47. In „La Balkona Bar“ kommt ein Mann aus dem Exil zurück in die fünfziger Jahre des Wirtschaftswunders. „Karate-Billy kehrt zurück“ ist Ihr zehntes Stück, und wieder steht eine „Heimkehr“ im Mittelpunkt, die eines früheren Vorzeigesportlers in sein Heimatdorf in der DDR kurz nach der Wende. Glauben Sie, daß Menschen nur weitermachen können, wenn sie sich ihrer Geschichte noch einmal aussetzen?
Klaus Pohl: Ich glaube, man kann mit bestimmten Lügen nicht leben, daran geht man zugrunde, wird ein Zombie, ein Untoter. Genau an diesem Punkt interessiert mich die Figur des Karate-Billy: Wenn ein Mensch, ganz kreatürlich, für sich das Recht zu Leben, einklagt, und zwar über die Fragen, die er stellt. Das ist ein Versuch zurückzukehren, aber es ist auch der Versuch, einen ersten Schritt nach vorn zu machen, weiterzuleben, und das nicht im Sinne der Gesellschaft, die ihn umgibt.
Diese Gesellschaft von Untoten bewegt Sie, seit Sie überhaupt schreiben. Was hat sich für Sie in den letzten Jahren in bezug auf die Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft, mit Politik verändert?
Leider nicht viel. Der Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Arrangement und Kreatur ist im Augenblick dabei, zugunsten des Arrangements, der verlogenen Begründungen und zugunsten des Lebens entschieden zu werden. Die Auseinandersetzung mit Deutschland, ob das jetzt die ehemalige DDR oder die frühere Bundesrepublik war, hat für mich nicht erst eingesetzt, als das „Deutsche Reich“ wieder entstand. Die Versuche mit dem Sozialismus im Sinne der DDR waren absolut zum Scheitern verurteilt, weil sie versucht haben, das Leben auszusperren. Die Basis war die Lüge, und die Lüge wird zerbrechen. Auch hier. Das ist ein Thema meines Stückes: Es war ja so bequem, als Karate- Billy noch nicht zurückgekommen war — man hatte ihn vergessen, seine Bilder abgehängt. Aber wenn er dann kommt, wird es unbequem. Das kann man mit der Figur der Pest im Ödipus vergleichen: auf einmal ist sie da. Der Staat fault vor sich hin, und einige Fragen müssen geklärt werden, sonst hört das Faulen nicht auf. Diese Fäulnis findet auch Karate-Billy vor, und er will sich nicht davon infizieren lassen. Das ist seine Größe.
Wenn Sie diesen Weg mit Ihrer Figur zurückgehen, an einem Stück arbeiten, wie weit sind Sie dann gezwungen, Schmerz an sich heranzulassen. Und was heißt das für Ihr Schreiben?
Dieses Nachvollziehen von Schmerz ist auch eine Therapie, und dadurch ist es ebenso eine Befreiung. Beim Proben jetzt mit den Schauspielern kommt mir dieses Schmerzmoment allerdings noch viel größer und präsenter vor, anders als am Schreibtisch. All diese Figuren, auch in ihrer Kleinheit und Miesheit, haben mein volles Mitleid, weil ich genügend Menschen kenne, die auf diese Weise fertiggemacht wurden, denen das Leben gestohlen wurde.
Diese Nähe zu beschädigten Menschen und die Sympathie für sie, zieht sich durch Ihre Stücke. Sie zeigen die Menschen, ohne sie zu denunzieren, aber Sie lassen sie auch nichts lernen, Sie erlösen sie nicht.
Ich weiß auch gar nicht, wieviel Menschen lernen können, aber zumindest nehmen sie an einem Prozeß teil. Was sie daraus machen, liegt erst hinter dem Stück, und wir wissen es nicht. Was die Menschen außerhalb des Theaters lernen, werden wir sehen, aber Rezepte will ich nicht anbieten. Ich will nicht belehren und auch auf der Bühne keine Leute zeigen, die wegen eines ästhetischen Programms zu lernen haben. Der Ursprung des Lernens ist die Erschütterung, die Fähigkeit, den Prozessen auf der Bühne zu folgen. Was daraus folgt, entzieht sich — zum Glück — meiner Kenntis und Kontrolle.
In den vorauseilenden Meldungen zu diesem neuen Stück war die Erwartung, endlich ein „Zeitstück“ zu sehen, groß. Der Mangel an „Gegenwartsstücken“ wird in den Feuilletons rituell beklagt. Ist das, was Sie beschreiben, nicht etwas ganz anderes?
Am sogenannten Gegenwartsstück interessiert mich allein die Gegenwärtigkeit der Figuren, die darin auftreten. Natürlich ist der Hintergrund dieses Stückes die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands. Daran interessiert mich, daß das in den Menschen, den einzelnen Figuren, sehr unterschiedliche Geschichten auslöst. Anders als in der Nachkriegszeit der ehemaligen Bundesrepublik, als man diesen Vorgängen ausgewichen ist, gibt es heute die Chance, solche menschlichen Schicksale zu verhandeln und auf die Bühne zu bringen, d.h., die Fragen zu stellen, die schmerzlich sind. Vielleicht haben wir das eine gelernt: Daß das Ausweichen vor diesen Fragen zu nichts führt.
Warum kommt das so selten auf die Bühnen? Liegt es an den DramatikerInnen oder am Theatersystem?
Es liegt wohl an beidem. Diejenigen, die Theater machen, bemühen sich viel zu wenig um Dramatiker, weil sie sich mit ihren Klassikern fett und satt mästen. Aber auch die Dramatiker sind aufgefordert, viel mehr über das Theater nachzudenken, für das sie arbeiten.
Zum ersten Mal inszenieren Sie ein eigenes Stück, in Hamburg. Und zur gleichen Zeit wird es auch in Stuttgart und München vorbereitet. Ist das ein hohes Risiko für Sie?
Ich hoffe es. Ich mag dieses Risiko und stelle mich ihm, weil man ja nicht mit einem Artikel auf den Markt geht und spekuliert. Viele sind schon einmal damit gescheitert, aber aus dieser Angst heraus gar nichts zu versuchen, das fände ich zu klein für mich.
Sie sind nicht nur Dramatiker und Regisseur, sondern auch Schauspieler, und Sie haben auch keine Angst vor dem Fernsehen. Ist das auch eine Möglichkeit, sich nicht festzulegen?
So verschieden, wie das immer dargestellt wird, ist es gar nicht. Der Beruf des Schauspielers, des Regisseurs und das Schreiben gehören traditionell zusammen, daraus entstand das Theater. Die Trennung, die nach 45 bei uns immer stärker vollzogen wurde, ist von den Nationalsozialisten eingeführt worden. Die Stelle des Dramaturgen war die des Parteibeauftragen, und so verhalten sie sich auch meist. Bei Shakespeare, Molière, Nestroy und Brecht gab es immer die Einheit von Spielen, Schreiben und Inszenieren. Der Autor legt gewissermaßen das Netz und den Schwimmer, und der Schauspieler legt den umgekehrten Weg zurück, er muß vom Schwimmer zurück zum Netz finden, und der Regisseur muß gut hinschauen und dem Schauspieler helfen, wenn er nach unten taucht, um das Fischernetz zu finden. Ich arbeite daran, diese nur aus Eitelkeit entstandene Überlegung, daß der, der spielt, nicht inszenieren kann und der, der schreibt, nicht spielen darf, überwunden wird. In Deutschland gibt es, anders als in vielen anderen Ländern, eine bildungsbürgerliche Borniertheit, die besagt, „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ — an diese Trennung glaube ich nicht.
Was denken Sie über die Kritik hierzulande, und was wünschen Sie sich für Ihre Produktion?
Ach, was soll ich davon halten, wenn jemand einen Text schreiben muß über das, woran man monatelang gearbeitet hat... Die Kritik muß ein Bedürfnis befriedigen: Klarheit zu schaffen, wo keine Klarheit ist. Das einzig Schmerzliche ist, daß eine Kritik die andere nachbetet; ich habe nur selten erlebt, daß wirklich hingeschaut und zugehört wird. Ich könnte mir schon etwas anderes vorstellen. Schließlich gab es auch Zeiten, etwa in den zwanziger Jahren, als Herbert Ihering sich zum Beispiel ganz anders mit Texten auseinandergesetzt hat. Aber damals hatten die Leute auch mehr Zeit. Heute müssen eben viele Seiten rasch mit Text gefüllt werden.
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