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Auf den Spuren Karls des Großen

Umweltschützer, Verbraucher- und Bauernvertreter durchstreifen das Baskenland auf der Suche nach einem EG-Agrarmodell  ■ Aus Cestona Michael Bullard

Schlamm quillt über Stöckelschuhe. Auf schlüpfrigem, von Kuhpisse und Schneematsch aufgeweichtem Lehmboden wird der kurze Weg vom Bus in den Stall auch für weißglänzende Jogging-Schuhe oder gepflegte Wildlederstiefel zum entstellenden Hindernislauf. Brauntrübe Pfützen zwingen die europäische Studiengruppe zu glitschigen Umwegen. Kalter Schneeregen treibt sie zur Eile an. Endlich im Trockenen umhüllt die Besucher die monströse Geborgenheit einer gigantischen Betonhalle; sie ist erfüllt vom schmerzvollen Muhen hinter Gittern eingepferchter Rinder. Ein Landarbeiter springt von Rindvieh zu Rindvieh, eine gewaltige Spritze in der Hand, die er ihnen in den Rücken jagt. Unter herzzerreißendem Gebrüll gehen sie in die Knie, unfähig sich zu wehren, weil ihre Schädel zwischen Gitterstäben eingeklemmt sind.

„Dies ist eine Modellfarm“, doziert der Ausflugsleiter, auf einem Strohballen balancierend, während seine Rede über das Kuhgebrüll hinweg vierfach übersetzt wird. „Die autonome Regierung von Navarra möchte den baskischen Bergbauern damit zeigen, wie sie Anschluß an das moderne Europa finden können.“ Dieser Satz scheint ihm zu gefallen. Darüber etwas verlegen grinst er seine Zuhörer an, ein buntgewürfelter Haufen von Umwelt- und Tierschützern, Vertretern alternativer Bauernorganisationen und Verbraucherverbänden. Sie sind aus zehn europäischen Ländern und den USA angereist, um am Beispiel des Baskenlandes die Möglichkeiten für eine Alternative zur EG-Landwirtschaftspolitik zu diskutieren.

Die Versuchsfarm für Massentierhaltung sei Teil eines gigantischen Modernisierungsprogramms für die meist noch kleinbäuerliche Landwirtschaft im Baskenland. Mit Unterstützung der spanischen Nationalregierung und der EG sollen im gebirgigen Teil des Landes zehn Stauseen, Wasserleitungen, Kraftwerke und ein Kanal gebaut werden, um die trockenen Ebenen im Süden der autonomen Republik gleichsam in einen agro-industriellen Garten Eden zu verwandeln. Für die Städter und Touristen will man dafür in den Bergen Naturparks mit entsprechenden Hotelanlagen installieren, wo die enteigneten Bauern als Naturschützer und Touristenführer Arbeit finden könnten. Auf den restlichen landwirtschaftlich nutzbaren Flächen würden „leistungsfähige“ Großfarmen angelegt. Die Verfechter dieser baskischen Variante einer „grünen Revolution“ litten an einem „Nordeuropa-Komplex“, kritisiert Paul Nicholson. Er arbeitet für den baskischen Bauernverband EHNE- UGAV, der neben den Euro-Grünen zu den Studien- und Diskussionstagen ins Baskenland eingeladen haben. Mit dem noch unter Franco entworfenen Projekt wolle die Regierung dem Norden mit seinen eigenen Mitteln Konkurrenz machen.

Selbst die EG-Kommission habe inzwischen eingesehen, daß die agro-industrielle Produktionsweise Umweltverschmutzung, Tierquälerei und Lebensmittelvergiftungen verursache, die das Maß des Erträglichen überschritten habe. Doch die sozialistische Regierung Spaniens verfechte weiterhin ein neoliberales Wirtschaftsprogramm, das Spekulanten bereichere, Kleinbetriebe ruiniere und die Natur zerstöre. Folge: Jede fünfte spanische Familie lebt in Armut, 16 Prozent der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos.

Die Autobahn windet sich in immer neuen Kurven durch tiefe Täler, verschwindet in Tunnels. Hochaufragende Berge auf der einen Seite, das Meer auf der anderen Seite führt die Strecke plötzlich an einer langen Reihe von Häuserblocks vorbei. Gleich hinter den Wohnhäusern Lagerhallen mit qualmenden Schloten, dazwischen ein Labyrinth verrosteter Rohre und gestappelter Baumstämme — eine Papierfabrik. Die Luft ätzt in den Bronchien. Von Umweltschutz sei im Baskenland, wie überhaupt in Spanien, noch wenig zu spüren, bemerkt der Gruppenleiter trocken. Immerhin würde zur Zeit ein Umweltministerium eingerichtet. Minuten später kurvt der Bus wieder durch die ländliche Idylle — grünes Gras mit weidenden Schafen.

Nächster Stopp. Wieder stapfen die mit nur städtischem Schuhwerk gerüsteten Besucher über schlammige Wege, um sich gleich darauf in einen kleinen, scharf riechenden Raum zu drängen. Kinderkopfrunde Gebilde, oben und unten platt gedrückt, sind dort auf Regalen aneinandergereiht. Der graugrünen Farbe nach zu urteilen handelt es sich um Plastikformen, spekulieren die Gäste. Wagemutigere drücken schon mal drauf — „weich“, stellen sie überrascht fest. „Käse“, klärt der Reiseleiter die Banausen auf, „es handelt sich hier um Schafskäse.“

Billiger ohne Zwischenhandel

Der Produzent wird vorgestellt. Der kleine Mann ist Mitglied der Bauerngewerkschaft. Auch sein Betrieb ist eine Modellfarm — allerdings von der alternativen Art. 250 Schafe liefern ihm die Milch, die er zusammen mit seiner Frau zu Käse verarbeitet. Die Käseräder werden direkt an die Endverbraucher verkauft — ohne preistreiberische Zwischenhändler.

Dieser Hof sei ein Beispiel dafür, warum die Konferenz im Baskenland stattfinde, erklärt Mitorganisator Hannes Lorenzen von den Euro- Grünen in Brüssel. „Das Baskenland ist eine der wenigen Gegenden Europas, wo die traditionellen Beziehungen zwischen Bauern und Verbraucher noch vor Ort studiert werden können.“ Wenn der Zwischenhandel ausgeschaltet wird, so die Logik, fallen auch viele Probleme weg, die die jetzige EG-Agrarpolitik belasten. Die Einkommen der Bauern könnten drastisch erhöht werden, ohne daß die Endverbraucher stärker zur Kasse gebeten würden. Man müßte nur die großen Handelsketten und Lebensmittelmultis, die 90 Prozent und mehr der von den Endabnehmern bezahlten Preise einstreichen, durch eine selbstorganisierte Verteilung ersetzen.

Für den ebenfalls angereisten Vertreter der EG-Kommission, Christian Anz, ist diese Vorstellung schon fast „reaktionär“. Denn die in Großstädten stark konzentrierten „Verbraucher haben kein Interesse an persönlichen Beziehungen mit den Bauern“. Im Gegenteil: „Sie nötigen dem Markt die Gesetze der Nachfrage auf, die durch Einförmigkeit, Einheitlichkeit und Niedrigpreis gekennzeichnet ist. Es ist unreell zu glauben, man könnte die Versorgung dieser Verbraucherzentren aus marktfernen Regionen wie dem Baskenland zugleich preisgünstig und biologisch sicherstellen.“

Die Alternative der EG — dem Marktdruck zu gehorchen und die Preise weiter zu senken, dafür aber die Bauern als Umweltschützer zu beschäftigen — hält der britische Verbraucheranwalt, Robert Simson, für eine passable Lösung. Niedrige Preise seien schließlich im Interesse der Verbraucher. Die baskischen Bauern hingegen, die das schlechte Wetter in das kleine Rathaus des Bergdörfchens Gerralda — nächster Stopp der Studienreise — verschlagen hat, fordern einer nach dem anderen bessere Einkommen durch höhere Preise. Weil sie ansonsten dichtmachen müßten, wie einer bemerkt: „Denn von Ferien auf dem Bauernhof können wir nicht leben.“

Dies sieht auch der lausbübische Bürgermeister des Örtchens so. Er sei selbst Bauer, müsse aber noch zuarbeiten, um überleben zu können. Die Besucher, die ihm gegenüber auf Holzbänken Platz genommen haben, scheinen ihn sichtlich zu amüsieren. Der Kälte und des Hungers wegen, die die Reisegesellschaft plagen, will keine rechte Diskussion aufkommen. Der großbäuchige Amtskollege vom Nachbardorf kommt schließlich zu Hilfe: „Die EG bestimmt zusammen mit der Regierung von Navarra über die Köpfe der Einheimischen hinweg deren Los“, sagt er angriffslustig. Ob es dagegen Widerstand gebe? „Wenig“, räumt er ein, „wahrscheinlich, weil die Kluft zwischen Städtern und Bauern so groß ist und die Bauern selbst auf dem Lande inzwischen manchmal eine Minderheit geworden sind“.

Widerstand befürchtet Einmischung der ETA

Auf Widerstand stößt die Studiengruppe jedoch ein paar Kilometer weiter: „Wir wollen nicht zulassen, daß unsere Region der Entwicklung einer industriellen Landwirtschaft in Niedernavarra geopfert wird.“ Bei Vino tinto, Käse und saftigem Schinken aus der Gegend berichtet die schwarzhaarige Rechtsanwältin von dem Staudammprojekt in ihrem Tal, gegen das sie und eine kleine Gruppe von Gleichgesinnten seit 1985 zu Felde zieht. Bislang ohne Erfolg, obwohl es sich teilweise um selten schöne Naturschutzgebiete handelt, die durch den Itoiz-Damm unter Wasser gesetzt werden sollen. Mit den Bauarbeiten will die Regierung nächstes Jahr beginnen.

Ein besonderer Aspekt baskischer Landwirtschaftspolitik wird dabei nur mit größter Vorsicht erwähnt: Die Staudammgegner möchten auf jeden Fall vermeiden, daß sich die baskische Terrororganisation ETA, die vor allem auch bei Bergbauern Rückhalt hat, in die Auseinandersetzungen einmischt. Bei anderen Projekten der Regierung wie dem Bau eines Atomkraftwerks oder einer Autobahn hatte dies tödliche Konsequenzen. Wenn es wieder so weit käme, befürchten viele, würde der Damm auf jeden Fall gebaut. Dann stünde nämlich nicht mehr Sinn oder Unsinn des Staudammprojekts zur Debatte, sondern das Verhältnis der Protestgruppe zur ETA.

In endlosen Serpentinen windet sich die Straße durch Steineichenwälder. Im Rhythmus der Kurven schwanken volle Mägen und weinduselige Köpfe hin und her. Die Abendsonne, die sich schließlich doch noch gegen die Wolkenmassen durchgesetzt hat, überzieht die weitgestreckte, hügelige Landschaft mit ihrem sanften Licht. So wohlig mußten sich auch die siegestrunkenen Heerscharen Karls des Großen gefühlt haben, als sie hier vorbei Richtung Heimat zogen. Im Auftrag des Urahnen der Europäischen Gemeinschaft hatten sie vor über 1.000 Jahren den Gedanken der europäischen Einigung mit Feuer und Schwert nach Spanien getragen. Nach ihrer erfolgreichen Mission liefen sie jedoch auf dem Rückweg den baskischen Bergbauern in die Falle. Die Spuren dieses unrühmlichen Kapitels europäischer Großmachtgeschichte sollen demnächst unter den Fluten Stausee begraben werden — wohl als symbolischer Akt, um Spaniens Aufbruch ins moderne Europa zu besiegeln.

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