: Man möchte viele Mauern einreißen
Im ostsächsischen Zittau läuft eine Euregio-Konferenz zwischen Polen, der CSFR und Deutschland/ Das zweite Dreiländereck liegt im Herzen Europas, „aber am Ende der Welt“ und hofft auf Förderung ■ Aus Zittau Detlef Krell
Die Zittauer Milchstraße ist eine krumme, buckelige Gasse. Einst wohnten Händler und Leineweber in diesem verwinkelten Viertel. Büsche und Bäume überwuchern die stillen, engen Höfe. „Sogar Wein wächst hier.“ Axel Wendrich liebt sein „besetztes Haus“ in der Milchstraße, die provokanten Lebenszeichen auf vergessenen Mauern. Idyllisches Zittau.
Eine Kleinstadt mit rund 30.000 Einwohnern. Kürzlich machte sie ihre ersten Schlagzeilen in der Presse. An die Leute, die sich mit faschistoidem Geschrei an Kindern vergriffen haben, erinnert sich Axel Wendrich deutlich. „Bevor die Neonazis das Ferienlager der Kinder aus Tschernobyl überfielen, grölten sie auf dem Markt ihre Losungen. Und die Polizei hat nichts unternommen.“
Seitdem darf nach Willen der Regierung in Minsk kein Kind mehr nach Zittau auf Ferien fahren. Rosi Hannemann, Ausländerbeauftragte, erinnert daran, daß sich in der kleinen Stadt schon seit vielen Jahren die Welt trifft; Studenten der Technischen Hochschule, Besucher aus Polen und der CSFR. „Die Leute hier sind eher gleichgültig als ausländerfeindlich. Aber nach dem Überfall sagten sie: Wer sich an Kindern vergreift, der schreckt vor nichts zurück!“
Heute leben in Zittau Menschen aus 19 Nationen. In einem Heim warten Asylbewerber und sowjetische Juden darauf, in der BRD aufgenommen zu werden. „Bisher haben wir noch keine Programme, diesen Menschen hier eine Heimat zu geben“, sagt die Ausländerbeauftragte. Textilindustrie, Armee und Fahrzeugbau, die drei Arbeitgeber der Region, sind zusammengebrochen. Mitarbeiter im Landratsamt gehen von 30 Prozent Arbeitslosen aus, doch sind 50 Prozent unterderhand im Gespräch. Zittau liegt mitten in Europa, aber am Ende der Welt. Die Region will auf wirtschaftliche Traditionen setzen, auf Handel, Textilgewerbe, Tourismus. Seit 1989 verließen etwa 5.400 Menschen ihre Heimat, noch immer sind es 200 in jedem Monat.
Axel Wendrich hat aus seiner Hausbesetzerzeit ein Projekt in die Arbeit als Stadtverordneter des Neuen Forums, nach der CDU hier die stärkste politische Kraft, hinübergerettet. Zwei Ecken von der Milchstraße entfernt, baut er mit dem Solar-Energetiker Jens Blochberger die Umweltbibliothek auf. Das handtuchschmale, dreistöckige Haus gehört der Stadt, die Bibliothek wird von einem gemeinnützigen Verein getragen.
„Wir wollen hier nicht nur Bücher verleihen, sondern einen Treff einrichten, und dabei denken wir auch an unsere polnischen und tschechischen Nachbarn und an die vielen Kulturen, die sich hier in der Stadt begegnen“, erzählt Axel zwischen Bauschutt und Regalen. „Wir brauchen nicht von einer Europa-Region im Dreiländereck zu reden, wenn sich nicht einmal die Nachbarn kennenlernen. Als hier einige Leute hörten, die Grenze wird geöffnet, kauften sie sich neue Türschlösser. Und für viele Polen beginnt Deutschland noch immer an der alten Westgrenze.“
Mauern abreißen möchte auch der kommunale Ausländerbeauftragte. Mitten im historischen Stadtkern, im 200 Jahre alten Prieberschen Haus, wo früher reiche Patrizier wohnten, will er ein multikulturelles Zentrum einrichten. Wo die zu Ruinen zerfallende 750jährige Geschichte Zittaus mit ihren Bürgerhäusern, Springbrunnen, Speichern, Gassen und Höfen wieder zu entdecken und aufzubauen ist, soll zugleich Weltkultur einziehen.
Bald eröffnen Vietnamesen in der Stadt eine eigene Gaststätte; und „Zum Goldenen Stern“ pilgerte schon öfter ein vielfarbiges Volk, um Abende mit Jazz und Folk, vietnamesischer und afrikanischer Küche zu erleben. Wie in den Gewölben dieser Marktkneipe das Frauenzentrum und „Die Unabhängigen“, engagiert sich in Zittau ein Netz von Vereinen und Initiativen. „Das ist gut so“, meint Thomas Pilz vom Neuen Forum, „aber die Lähmung unter den Menschen hier, das Gefühl, wieder abgeschrieben zu sein, bleibt trotzdem.“
Erst wenn die alten Mauern der nationalen Vorbehalte und die neuen der EG-Außengrenze überwunden werden, rückt das Dreiländereck tatsächlich wieder in das Zentrum Europas. Das bestätigen sich die Ministerpräsidenten Sachsens und der tschechischen Teilrepublik bei ihrer ersten Begegnung. In diesem Sinne kam im April in Görlitz auch die deutsch-polnische Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit überein. Auf der heute in Zittau beginnenden Euregio-Konferenz werden nun konkrete Schritte für grenzüberschreitenden Umweltschutz, Aufbau einer Infrastruktur und Wirtschaft, des Tourismus und der kulturellen, wissenschaftlichen und parlamentarischen Zusammenarbeit erwartet. Unter diesem Thema haben Arbeitsgruppen der drei Länder das Treffen vorbereitet.
In einem von den benachbarten Kreisen Bogatynia, Liberec und Zittau unterzeichneten „Vorschlag zur Erarbeitung eines Pilotprojektes für die Region Dreiländereck“ wird die EG um Unterstützung bei der „Überwindung wirtschaftsstruktureller Schwächen und entscheidender Standortnachteile“ gebeten. So könnte der „europäische Integrationsprozeß wesentlich befruchtet werden“. Gemeinsames Interesse sei, „die strenge nationale Abgrenzung von Deutschen, Tschechen und Polen“ wieder zu überwinden. Das von den drei Seiten vorgeschlagene Programm sieht einen Erdgasverbund zwischen Liberec und Zittau vor, was den Anschluß Zittaus an das Erdgasnetz bis 1995 und von Liberec ab 1992 voraussetze.
In den Verbund sollen die polnischen Städte Bogatynia und Jelenia Gora einbezogen werden. Dann wäre es möglich, das vom Rauchgas entwaldete Isergebirge und Riesengebirge aufzuforsten. Begonnen wurde bereits mit der Öffnung weiterer Grenzübergänge. Möglich sei eine neue Fernstraße Deutschland-Polen. Zum Verkehrsprojekt gehört nach Ansicht der drei Nachbarkreise die Wiedereröffnung der Eisenbahnstrecke Stralsund-Zittau-Liberec und die Rekonstruktion des Liberecer Flughafens. Gemeinsam will die Region ihre Denkmäler der Holzarchitektur pflegen, Studiengruppen austauschen und ein interregionales Jugendhaus einrichten.
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