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Das "große Geheimnis"-betr.: "Nachruf auf eine Bestie", "Bei seinem Erzeuger wäre er erwünscht gewesen" /Müller-Luckmann), taz vom 17.5.91

betr.: „Nachruf auf eine Bestie“, „Bei seinem Erzeuger wäre er erwünscht gewesen“ (Müller-Luckmann), taz vom 17.5.91

Daran, daß die taz vor Jahren beim Verzicht auf die Schwulenredaktion „Mut zur Lücke“ (so einer euren zynischen Kommentare) bewiesen hat, hat sich schwul zwischenzeitlich gewöhnt. Daß dem Blatt damit auch einiges an Sensibilität abhanden gekommen ist, zeigt das „Dossier“, das ausgerechnet am so symbolträchtigen 17.5. zum Abdruck gelangte. Es ist sicher nicht ohne Pikanterie, daß die taz den Artikel am 15.Todestag Bartschs aufhängt, ihn dann aber fast zwei Wochen später und ausgesprochen geschickt getimed bringt.

[...] Das „Nachdenken“ des Autors beschränkt sich auf Wiedergabe längst bekannter Fakten und das einzig substantiell Neue ist allenfalls das Interview mit Müller-Luckmann. Dieses Interview aber hat es in sich, weil es Heterrorismus in Reinkultur transportiert. Die Gewalt der Psychiatrie tobt sich hier aus, die unkritisch die Funktion übt, gängige Wertvorstellungen im Sinne eines statistisch- normativen Normalitätsbegriffs in psychiatrische Kategorien zu übersetzen. So ist es keineswegs zufällig oder gedankenlos, daß Müller-Luckmann nicht von Bartsch als Sadisten, sondern von Bartsch als dem „homosexuellen Sadisten“ spricht. Die Beifügung dieses Adjektivs ist verräterisch und zeigt, worin Müller-Luckmann das „große Geheimnis“ sieht, das sie so gern ergründet hätte, um einen Therapieansatz zur Behebung dieser „schwersten perversen Entwicklung“ zu finden, die für sie sichtlich nicht in Bartschs Sadismus, sondern in seinem „homosexuellen Sadismus“ begründet liegt.

[...] In einer Gesellschaft, der die Gewaltsamkeit immanent ist ( wie viele Kinder werden von ihren Eltern totgeschlagen, gequält, mißbraucht), ist der Fall Jürgen Bartsch nur eine relative Abweichung von der Normalität. Hier aber setzt die Aufgabenstellung der forensischen Psychiatrie an, die als Hilfskräfte der herrschenden Ordnung vor allem die Funktion hat, die Abweichung dämonisierend zu beschreiben, um von der Pathologie der Normalität abzulenken. In diesem Sinne gibt das Gruselbild vom homosexuellen Sadisten natürlich viel her. Dieter F.Ullmann,

(West-)Berlin

[...] Thorsten Schmidt versucht, objektiv zu bleiben, indem er mehrere Interpretationsansätze liefert, nach dem Motto: Es gibt mehrere Wahrheiten.

Aber dürfen wir uns noch hinter dieser Objektivität verschanzen — die doch nur die Verantwortlichkeit schützt und uns vor der eigenen Angst (das Wiederaufleben der verdrängten Schmerzen aus der eigenen Kindheit) bewahren soll — wenn es darum geht, diesen allgemeinen Wahnsinn zu stoppen.

Leider wird Alice Millers Erklärung nur als Erklärungsversuch erwähnt. Wer aber die Bücher von Alice Miller wirklich verstanden hat, der braucht ihre, für viele wohl ungeheuerlich erscheinende Wahrheit nicht abzuschwächen. Leider gibt es auch immer noch sogenannte Fachleute, die die Tatsachen mit absurden Theorien und Begriffen wie „Triebdeformation“ unkenntlich machen müssen. Tatsache ist, daß verantwortungslose Eltern und ErzieherInnen aus abhängigen, unschuldigen Kindern (unwissentlich) Monster züchten, wenn sie diese physisch und psychisch mißbrauchen, schlagen, demütigen, verwirren, ihre eigenen — nie erfüllten — Bedürfnisse über die des Kindes stellen und dieses dem Kind als Liebe verkaufen und Dankbarkeit erwarten.

Wer dieses Wissen um die wahren Zusammenhänge jedoch integrieren kann, für den ist Jürgen Bartsch kein „Geheimnis“. Da dieses Wissen allgemein aber verdrängt wird, ist es kein Wunder, daß solche „Bestien“ immer wiederkehren werden: als Massenmörder, Diktatoren, „Trieb“täter oder in gemilderter, gesellschaftlich anerkannter Form als Arzt, der „stereotaktische Gehirnoperationen“ und Kastration als „Therapie“ empfiehlt beziehungsweise auch ausführt. Julia Klose, Lilienthal

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