Herr Urian und seine Hexen

■ Die Touristenorte im Ostharz suchen Anschluß an moderne westliche Fremdenverkehrsbräuche

Bilsenkraut, Tollkirsche, Stechapfel — es ist phantastisch zu fliegen, wenn einem der Teufel die Salbe mit den klassischen Nachtschatteningredienzien unter die Füße gerieben hat. Erst wird es einem ganz fedrig zumute. Dann geht es los: im Sturmgebraus und über Stock und Stein hinauf zum Brocken, zur Walpurgisorgie. Wie Margaretha Detlofs in ihrem Hexenprozeß 1584 aussagte, sei sie auf einem Besen zum Blocksberg gefahren. Anna Beringers gestand 1573, daß der Hosenteufel Lucifer sie auf einem weißen Ziegenbock dorthin geflogen habe. Auf dem Brocken sitzt der „Herr Urian“ und „buhlet“ mit all den bösen Weibern. Die Nacht hallt wider von ihrem wilden Getöse. Wie es die Harzer Volkssage weiß, bewiesen sie dem Leibhaftigen mit Kniewürfen und Fußküssen ihre Untertänigkeit.

Heutzutage kommt der Teufel schon mittags um 14 Uhr zum Brocken, und zwar per PKW mit Sondergenehmigung. Während in den umliegenden Harz-Orten noch die Kinderumzüge und die Vorbereitungen für die nächtlichen Reden der Oberteufel und die Wahlen von Maiköniginnen laufen, während sich auf Goslars nostalgischem Jahrmarkt die Karussells drehen und die ersten Walpurgis-Sonderzüge aus Wernigerode und Nordhausen zum Fuße des Brocken, nach Schierke, unterwegs sind, tritt er in der Gestalt des Mephisto im feschen roten Wams und mit langer Feder an der Kappe zu einer Schar Schaulustiger und rezitiert Verse aus Goethes Faust.

Hinter der Maskerade verbirgt sich ein pensionierter Pfarrer. Mephisto alias Dr. Gynz-Rekowski hat zur Pressekonferenz eingeladen, um sein „Heimatbuch“ zur Historie des Brockens vorzustellen. Mit von der Partie ist „Seine Durchlaucht“, der Fürst zu Stolberg-Werningerode — sichtlich angetan von der späten Ehre, hier oben auf dem Gipfel als der „eigentliche Besitzer des Brockens“ vorgestellt zu werden. Seit seiner Übersiedlung in die damalige „Westzone“ lebte er im hessischen Vogelsberg. Jetzt hat er zu Gynz-Rekowskis Buch in bewegenden Worten ein Vorwort verfaßt, das seiner Heimatverbundenheit Ausdruck geben soll. Es wird den Nerv vieler alter und neuer Brocken-Fans treffen, die den Berg nach 30 Jahren hermetischer Abriegelung zum Symbol der Freiheit erkoren haben. Man erinnere sich: Zum Tag der Deutschen Wiedervereinigung reisten sogar die Fischer-Chöre an und sangen fürs Deutsche Fernsehen.

Wo schon Goethe, Seume, Eichendorff, Löns, Andersen, C.D. Friedrich, Bismarck, Zar Peter und viele andere „Prominente“ weilten, wo Heine allerdings auch kräftig Spott über die Brocken-Fans ausgoß, formiert sich wieder eine neue Brocken-„Gemeinde“. Mit Freude nimmt sie die Nachricht auf, daß der Brocken-Wirt die Gastronomie vergrößern wird und demnächst in eines der großen Kuppelgebäude zieht.

Wo aber sind die Hexen zu dieser Feierstunde geblieben?

Mephisto, der Pfarrer, hat sich ein domestiziertes Exemplar mitgebracht. Anmutig hält sie den Besen und schweigt die ganze Zeit. Alle „echten“ scheinen den Brocken zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

In einer Harzer Zeitung lese ich Ungeheuerliches über die Verfolgungen der Harzer Hexen. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges konnte sich der Hexenrichter Benedict Carpzow rühmen, in seiner Amtszeit an die 20.000 Todesurteile gefällt zu haben. Gynz-Rekowski zitiert in seinem Buch einen Braunschweiger Geschichtsschreiber, der aus seinem Regierungsbezirk von täglich mehr als 12 Hexenverbrennungen berichtet: „... und man sah stellenweise nur verkohlte Baumstämme.“

Die Geschichte der Hexenprozesse beginnt im späten 15. Jahrhundert. Vorher gab es keine Hexen im modernen Sinn. Aus den Überlieferungen sind zwar „Weiberbünde“ und „Weiberfeste“ oder „Wilde Jagden“ im Gefolge der Diana oder der Herodias bekannt, die Figur der zauberischen bösen Hexen und Teufelsdiener aber wurde erst von der katholischen Intelligenz im Zuge der Krise der mittelalterlichen Kirche theoretisch begründet und ausgearbeitet. Daß Frauen immer wieder von sich aus Hexerei phantasierten, ist eigentlich nur aus der Wut über ihre reale Ohnmacht zu erklären; daß sie damit aber bis auf den Brocken gelangt sein sollen, mochte glauben, wer es glauben wollte. Der „ungläubige“ Harzer Graf Heinrich zu Stolberg beispielsweise scherte aus dem grassierenden Hexenwahn aus und ließ 1661 sogar einen Ankläger festnehmen, statt der beschuldigten Hexe den Prozeß zu machen. Um am angeblich orgiastischen Hexensabbat teilzunehmen, hätten die Frauen einen mehrstündigen Aufstieg in Kauf nehmen müssen — egal von welchem dem Brocken nahegelegenen Ort aus. Bei Sturm und Schnee ein mühsames Unterfangen. Wenn schon nicht der Teufel selbst, so konnten sie nur die schrägen erotischen Phantasien der Inquisitoren dortin transportiert haben.

Erotik-Show „Fantasia“ im Kurpark zu Schierke — ein leichtgeschürztes Lederpaar ist der Programmhöhepunkt vorm mitternächtlichen Feuerwerk. Der Ort im Ostharz knüpft an alte Traditionen an, oder anders gesagt: er nimmt Anschluß an moderne westliche Fremdenverkehrsbräuche. Im Westharz sind aus den Walpurgisfeiern eigenwillige Varianten hervorgegangen wie die Kombination von Teufelsgaudi mit provinzieller Maifeier. Von den großen Feuern und den symbolischen Hexenverbrennungen hat man aufgrund von Protesten Abstand genommen, die Assoziation zu den Scheiterhaufen der Inquisitoren lag denn doch zu nahe. Die Veranstalter im Ostharz, wie in Schierke, bemühen sich bislang erfolgreich, das Feiern mit Puppentheatern von Faust und Mephisto, mit „fidelen“ Blasmusikanten und Fackelzügen in Gang zu bringen. Wie schon im letzten Jahr werden wieder viele tausend Besucher gezählt. Der Auftritt seiner frisch formierten Jungturnerinnen- Riege verführt ihren Leiter zum Selbstlob über die zukunftsweisende Eigeninitiative, die man in diesen schweren Zeiten, die die neuen Bundesländer durchmachen, schon entwickelt habe. Für kurze Momente versprüht das Volksfest den Charme einer Betriebsfeier, und man erinnert sich an kaum verflossene DDR-Zeiten.

Die traditionellen Feiern der „Walpurgisgemeinde“ auf dem Brocken sollen sich etwas anders abgespielt haben. Den Berichten zufolge reiste ab 1901 wohlhabendes Teufelsgelichter per Zug dorthin. Viel „Prominenz“ soll dabeigewesen sein, und wilde Feste soll es im Brocken-Hotel gegeben haben bei Walpurgasuppe, Höhlenbärenschinken mit Zaubertunke, Teufelsröhren, Blocksbergpillen, Beelzebubzähnen und Hexenfilet. Die Walpurgisnacht bildete den touristischen Höhepunkt des Jahres.

Die Veranstalter der neuen Walpurgisfeste nehmen bislang von großen Brocken-Feierlichkeiten Abstand — aus Gründen des Naturschutzes, denn das Brocken-Gebiet wird in einen Nationalpark umgewandelt. Es ist schwer vorstellbar, was auf dem kahlen Gipfel selbst noch zu schützen ist nach den Zerstörungen durch alliierte Bomben im Zweiten Weltkrieg, den späteren Geröllaufschüttungen, den Bauaktivitäten der Stasi und der Rotarmisten, die dort noch stationiert sind. Zahllosen Walpurgisfans scheinen die Mahnungen der Naturschützer zweitrangig zu sein. Fast unbemerkt brechen abends von Schierke und anderen Orten aus immer wieder neue Grüppchen von Unentwegten zum Brocken-Gipfel auf. Rund 600 Personen scharen sich schließlich in der „Eiseshölle“ zur „Stehparty“ um den Imbißstand, wohlverköstigt mit „Teufelsblut“ und „Schierker Feuerstein“.

Und wo sind die Hexen geblieben? Wie seinerzeit „Herr Urian“ sich seine Schönste unter den vielen bösen Weibern erwählte, so kürt Schierke aus einem Kreis verkleideter Frauen die „Frau Marianne“ zur schönsten Hexe. Um „echte“ in Augenschein zu nehmen, ist ein Programmwechsel zum Fernsehgerät nötig: Dort präsentiert RTL der Öffentlichkeit eine gewisse „Frau Sandra“, von Beruf Hexe.