: CAPITALISIERT BERLIN!
■ Warum schweigt Kreuzberg zur Hauptstadtfrage?
Berlin wird immer mehr Berlin
Humorgemüt ins Große
Das wär' mein Wunsch: Es anzuziehn
wie eine schöne Hose.
Und wär' Berlin dann stets um mich
Auf meinen Wanderwegen
Berlin, ich sehne mich in Dich
Ach, komm mir doch entgegen! (Ringelnatz)
Von wegen! Berlin wird niemandem entgegenkommen, die Stadt ist mit sich selbst beschäftigt. Berlin heute, das ist der klassische Fall des todkranken, in Lumpen gekleideten Hypochonders, den alle Welt stets mit einem exzentrischen Multimillionär verwechselt. Kein Wunder, daß Bonn nun die Herausgabe weiterer teurer Infusionen verweigert. Immerhin wurden erst kürzlich die Berliner „Tresore“ geöffnet. Doch statt unschätzbarer Reichtümer fielen den Vereinigungshusaren lediglich Verbindlichkeiten in unschätzbarer Höhe und ein verstaubter Uralt-Titel in die gierigen Hände.
Mag der Titel auch nur von historischem Interesse scheinen; er ist nach wie vor gültig. Mehr noch. Berlin zur deutschen Hauptstadt machen zu wollen, ist ein so überraschend emanzipatorischer Gedanke, daß gerade die friedliebende und internationalistische Linke ihn vorantreiben sollte.
Als Argument gegen Berlin wird von vielen die Gefahr einer umgehenden Wiedererstarkung deutscher Großmannssucht ins Feld geführt. Merkt denn niemand, wie lächerlich diese These angesichts der realen Situation im märkischen Sandkasten wirkt? Kommt und seht, möchte man stöhnen, wie allein die Vorbereitungen zur Capitalisierung des siechenden Fleckens weit ins nächste Jahrtausend hineinreichen werden! Bis auf wenige subventionstherapierte Zönchen im Westteil des ungelenken Giganten und dem unveränderten Abfuck-Charme Kreuzbergs offenbart sich doch auch dem nekrophilen Beschauer das frisch aufgeschnittene Innere der Stadt als unangenehmer Klumpen tumorösen Fleisches.
Wer's nicht glaubt, möge den Ostteil aufsuchen, dem Experten eine immerwährende Zukunft prognostiziert hatten. Er wird dort — soviel darf versprochen werden — auf einer Art holprigem Quantenschaum eine echte Zeitreise in die bundesrepublikanischen fünfziger Jahre erleben. Wer es härter liebt, der kann sich in acht von zehn Bezirken auch problemlos für das unmittelbare Kriegsende entscheiden.
Was die Verkehrswege von, nach und in Berlin angeht, sollte man ehrlichkeitshalber von einer Infarktstruktur sprechen, da es an der Spree im Gegensatz zu anderen Städten keine „Rush- hours“ mehr gibt. Der Kollaps ist Dauerzustand. Und wird Berlin wirklich vor Lebenslust zu brodeln beginnen, wenn Abertausende Beamte aus einer westdeutschen Kleinstadt hierher zwangsversetzt werden?
In diesem Zusammenhang ist zu fragen: Aus welchem Grunde hört man nichts aus den autonomen, linken und alternativen Headquarters in Berlin, kurz, warum schweigt Kreuzberg zur Hauptstadtfrage? Starr vor Schreck wegen des Vorschlags des Bezirksbürgermeisters von Tiergarten, Barthel, Kreuzberg endgültig von der metropolitanen Karte zu radieren? Oder ist es die Angst vor der Bonbonnisierung Berlins? Uns kann doch nichts Besseres passieren!
Nehmen wir beispielsweise den angenehm hohen Ausländeranteil in der Stadt. So viele Jahre haben sie in Bonn alles getan, unsere Gäste irgendwie loszuwerden. Doch eine Fahrt durch Kreuzberg, Neukölln, Wedding wird den rheinischen Neuberlinern täglich das exotische Gefühl vermitteln, sich in Ankara oder Istanbul aufzuhalten. Liebe und naive Ex-Bonner könnten überdies allmählich Gefallen am Islam finden; zumal „Türkyemspor“ der einzige interessante Fußballklub der Stadt ist.
Doch wäre für manche angesichts der Lage auch eine rasche Entwicklung hin zu beinharten Öko-Freaks denkbar. Denn das brandenburgische und weitere Umland als Naherholungsgebiet zu bezeichnen, käme in etwa dem Angebot an den „Club Mediterranée“ gleich, die Region um Bitterfeld in die Liste der Landschaftsperlen Mitteleuropas aufzunehmen.
So hatten wir das eine Mal im sogenannten „Naturschutzgebiet Mecklenburger Seenplatte“ ein riesiges sowjetisches Manövergelände gar zu lange für eine urwüchsige Vulkanlandschaft gehalten und uns erst angewidert zurückgezogen, nachdem wir auf eine Grube mit reichlich obskuren und stinkenden Flüssigkeiten gestoßen waren. Mein Kleiner drohte daraufhin, sich „fortan nur noch in Gummistiefeln“ in die „neuen Länder“ bewegen zu wollen.
Ein anderes Mal waren wir Richtung Strausberg/Buckow aufgebrochen und bei Oberwaldorf tief ins Unterholz eingedrungen. Großer See und viel Wald drumherum! Die Freude indes währte auch hier nicht lange. Bald schon kam uns der Kleine entgegengerannt, den wir im Osten nun vorsichtshalber gern als Späher einsetzen. Mit einer Hand hatte er Nase und Mundpartie versiegelt und schüttelte bedeutungsvoll den hübschen Kopf. Wortlos strebten wir zum Auto zurück.
Wenig später verabreichte man uns in einem jener neokapitalistischen „Imbiß-Centren“ unter dem harmlos klingenden Begriff „Würstchen“ eine Dosis biologischen Kampfstoffes, der gegen Abend seine heimtückische Wirkung entfaltete. Die Symptome glichen exakt denen einer Lebensmittelvergiftung.
Dergestalt erholte Menschen wirken schnell fahrig und unkonzentriert. Da machen auch die jetzt schon explodierenden Grundstückspreise, Mieten und Lebenshaltungskosten den Kohl nicht fetter. Und wer die Berliner Luft nicht nur aus Liedern kennt, weiß, welch beruhigende Wirkung sie vor allem auf hemdsärmeligen Arbeitseifer ausüben kann. Wenn dann die großen Projekte anstehen, woher soll man sie nehmen, die „manpower“? In West-Berlin war sie schon vor der Maueröffnung mit der Lupe zu suchen. Doch auch der anrainende Osten wird hier von niemandem ernsthaft als Talentschuppen bezeichnet. Vielmehr drohen der Hauptstadt in spe von dort aus neben manch Achtenswertem leider auch Rassismus und Intoleranz.
Während Wessis immer nur lesen oder hören, was unter der „Westwarengeilheit der Ossis“ zu verstehen ist, kennen und lieben wir sie mittlerweile. Denn uns begegnet sie mitunter gar in der Form flanierender pink-türkiser Jogginganzüge unter schwarz-grauen H.-Schmidt-Käppis. Man stelle sich vor, CNN würde eine solche Szene vor dem Hintergrund des Reichstages und einiger Sporttrabis weltweit ausstrahlen. Ein bedrohliches Bild Deutschlands?
All diejenigen, die Willy Brandts Rede vom „Zusammenwachsen“ dessen, „was zusammengehört“, kritisiert hatten, ihm im ersten Schock schon den Grand-Old-Man-Bonus der deutschen Politik wieder aberkennen wollten, müssen doch spätestens jetzt erkennen, wie weit der alte Fuchs mal wieder gedacht hatte. Für mindestens ein Jahrhundert werden die „alten Länder“ Milliarde um Milliarde in dieses bodenlose Faß hineinwerfen, ohne daß man auch nur den Aufprall wird vernehmen können. Jeder Bundesbürger wird lernen müssen, Berlin als zwar unsichtbare, aber doch stets präsente Hand in seinem vom „Aufschwung Ost“ ausgezehrten Portefeuille zu begreifen.
Denn Berlin zur Hauptstadt zu küren, bedeutet in letzter Konsequenz auch: Halbierung der Rüstungsausgaben, Verzicht auf jeden westdeutschen Prestige-Schnickschnack für die nächsten zwei Jahrhunderte, Plünderung der kommunalen und Landeskassen für einen noch zu gründenden Sonderfonds „Reanimation Berlin“ und Rückzug aus dem Internationalen Währungsfonds und anderen teuren und aggressiven Institutionen. Wahrlich, eine lohnende Aufgabe!
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